Stadt der Masken strava1
wieder ins Innere gegangen und kehrte soeben mit zwei Gläsern zurück, die eine prickelnde goldene Flüssigkeit enthielten. »Prosecco«, sagte er. »Du hast einen Schock erlitten.«
Lucien wollte gerade sagen, dass er keinen Alkohol trinke, doch dann merkte er, wie durstig er war, und er hatte keine Ahnung, wie das Wasser in dieser Stadt war. Wo er sich befand, war eine Sache, aber die Zeit, in die er geraten war, war auf jeden Fall nicht das einundzwanzigste Jahrhundert, und die ganze Schönheit der Stadt konnte den faulen Geruch, der den Kanälen entstieg, nicht überdecken.
Er trank den Prosecco. Er war kalt und etwas herb und schmeckte ganz ausgezeichnet. Alfredo, der alte Mandolier, der ihn von der Scuola hergebracht hatte, kam hinter Rodolfo aus dem Fenster, in der einen Hand eine Flasche und in der anderen ein Tablett, auf dem ein paar appetitlich aussehende Schinkenbrote lagen. Erst jetzt bemerkte Lucien, dass er am Verhungern war. Wann hatte er das letzte Mal gegessen? Das Gebäck in dem Lokal mit Arianna? Oder waren es die paar Bissen Rührei gewesen, die er in seinem anderen Leben vor dem Schlafen mit Mühe hinuntergewürgt hatte?
Wie dem auch sein mochte, es schien lange zurückzuliegen, und er hatte drei Brote verschlungen und zwei Gläser des prickelnden Weins getrunken, bevor er auch nur anfing über die Fragen nachzudenken, die er Rodolfo jetzt stellen musste.
Der weißhaarige Gelehrte oder Zauberer oder was er sein mochte saß in zugeneigter Stille bei ihm, während Lucien sein Mahl beendete. Er selbst aß jedoch nichts.
»Geht’s dir jetzt besser?«, fragte er schließlich.
»Ja, vielen Dank. Es geht mir sogar prächtig.«
Lucien stellte sein Glas neben sich auf den Terrassenboden und streckte sich, fühlte bei dieser Bewegung ganz bewusst jedes Glied, jeden Muskel in sich. Keine Müdigkeit, keine Schwäche, keine Schmerzen waren zu spüren. Vielleicht war es ja der Wein, aber er fühlte, wie er von Energie durchrieselt wurde.
Rodolfo lächelte. »Erzähle mir von dir und deinem Leben in der anderen Welt.«
»Das wissen Sie also nicht?«, fragte Lucien, der davon ausgegangen war, dass Rodolfo zu der Art von mächtigen Zauberern gehörte, die alles wissen.
»Nur, woher du wohl kommst und ungefähr, aus welcher Zeit«, antwortete Rodolfo. »Über dich persönlich gar nichts, nicht mal, wie du heißt.«
»Lucien«, sagte Lucien. »Aber hier sagt man wohl Luciano. So habe ich mich zumindest der Duchessa vorgestellt.«
»Dann belassen wir es besser bei Luciano«, entschied Rodolfo ernst, doch seine Augen umspielte ein Lächeln.
»Ich weiß nicht, was Sie wissen möchten«, sagte Lucien. »In meinem richtigen Leben bin ich sehr krank. Ich bekomme eine Behandlung, die mich vielleicht mal heilt, aber solange sie gemacht wird, geht es mir viel schlechter. Hier fühle ich mich jedoch unglaublich gut. Als ob ich kerngesund wäre.«
Rodolfo beugte sich vor und lauschte aufmerksam jedem Wort. Die nächste Stunde verbrachte er damit, Lucien über jede Einzelheit seines normalen Lebens auszufragen, selbst über solche Banalitäten wie die Essensgewohnheiten seiner Familie und wo sie einkauften. Seine dunklen Augen blitzten auf, als Lucien ganz alltägliche Dinge wie Supermärkte, die U-Bahn oder Fußballspiele beschrieb.
Selbst als er von Pizza erzählte, von der Lucien doch annahm, dass sie ihm völlig geläufig sei, runzelte Rodolfo verständnislos die Stirn.
»Ein rundes Fladenbrot mit gebackenen Tomaten und Käse drauf?«, fragte er.
»Bist du sicher?«
»Oder mit Truthahn oder meinetwegen sogar mit Labskaus. Heutzutage kriegt man alles.«
Rodolfo sah ihn verständnislos an. »Diese Speisen, die du da erwähnst, gibt es bei uns in Talia nicht. Schmecken sie gut?«
»Ja – einige wenigstens –, wenn auch nicht unbedingt auf Pizza«, sagte Lucien.
Rodolfo lehnte sich in seinem Stuhl zurück und streckte mit knackenden Gelenken die Glieder.
»Jetzt sind Sie dran«, sagte Lucien. »Erzählen Sie mir von Bellezza und von Talia.«
»Was möchtest du wissen?«
»Alles.« Lucien machte eine umfassende Geste. »Ich verstehe nichts von alldem.
Ich meine, warum ich hier bin und warum ich keinen Schatten habe. Und warum haben Sie jemand wie mich erwartet?«
Rodolfo erhob sich und trat an die steinerne Balustrade. Er blickte über das silberne Dach der Kirche. Dann wandte er sich um und starrte Lucien an.
»Um deine Fragen zu beantworten, muss ich weiter zurückgehen. Vor einiger Zeit
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