Stadt der Masken strava1
Arianna beiseite gezogen, sobald ihm aufgefallen war, wie spät es schon war.
»Ich muss zurück. In meiner Welt ist es schon Tag, und wenn ich dort nicht auf
wache, dann ängstigen sich alle zu Tode. Das ist mir schon mal passiert. Ich muss demnächst verschwinden.«
Arianna sah ihn fassungslos an. »Du kannst doch nicht einfach verschwinden!
Was soll ich den anderen denn sagen?«
»Wenn es so ist wie sonst, dann bin ich nur ein paar Augenblicke verschwunden
– ein Wimpernzucken lang«, sagte er zu ihr.
»Bist du sicher?«, fragte Arianna zweifelnd.
Lucien zögerte. »Nein, ganz sicher bin ich nicht. Ich hab es nur mal in Bellezza in Rodolfos Laboratorium probiert. Aber ich warte, bis wir auf dem Boot sind. Es wird schon dunkler und du kannst mich abschirmen – indem du alle ablenkst.«
Es war beschlossen worden, dass Arianna nach Bellezza zurückkehren und weiter bei Tante Leonora bleiben sollte, wenn es auch niemand mehr eine Strafe nannte. Arianna hatte das Gefühl, dass man ihr verziehen hatte und dass sie ihren unbeschwerten Aufenthalt in der Stadt nun genießen konnte. Aber die Sache mit Lucien machte ihr Sorgen.
Kaum hatten sich alle voneinander verabschiedet, was Lucien eine Ewigkeit zu dauern schien, und nachdem ihre Brüder das Boot auf die Lagune hinausgerudert hatten, machte Lucien Arianna ein Zeichen, dass er bereit war. Eine bessere Chance würde sich ihm wohl nicht bieten, obwohl außer dem ihren auch noch andere Boote auf dem Wasser waren. Dasjenige, das ihnen am nächsten dahinfuhr, war jedoch weit genug entfernt, als dass die Insassen in der Dunkelheit etwas bemerken würden.
»Was ist denn das da drüben?«, fragte Arianna aufgeregt und deutete in Richtung Stadt. Alle verrenkten die Hälse, um zu erkennen, wovon sie sprach – und Lucien verschwand.
Sie hatte eine Sternschnuppe oder einen Fliegenden Fisch zum Vorwand nehmen wollen, aber das plötzliche Gefühl, dass Lucien fort war, lähmte ihre Erfindungsgabe völlig. Gerade noch hatte sie seine Wärme spüren können, dann war er fort.
Zitternd blieb sie zurück.
»Was meinst du?«
»Wo denn?«
Zum Glück gab es tatsächlich etwas zu sehen. Eine Rakete oder einen Knallkörper, der über dem Dom in den nächtlichen Himmel aufstieg und in einem Schauer von Funken zerbarst. Im gleichen Moment spürte Arianna die Wärme von Luciens Anwesenheit auch schon wieder. Sie schnappte nach Luft.
»Du hast ja vielleicht scharfe Augen, meine Nichte«, sagte Leonora. »Du kannst einen Feuerwerkskörper sogar vor dem Explodieren erkennen!«
»Aber schön war es!«, meinte Tommaso.
»Signor Rodolfo muss wohl seine nächste Vorstellung vorbereiten«, sagte Angelo. »Für den Maddalena-Tag.«
»Aber das ist doch untypisch für den Senator, so unvorsichtig zu sein, nicht wahr, Lucien?«, fragte Leonora.
»Stimmt«, erwiderte Lucien, der ebenfalls zitterte. »Er muss sie absichtlich abgeschossen haben.«
Arianna sagte nichts. Sie war so perplex, eine Stravaganza miterlebt zu haben, dass ihr während der ganzen Fahrt die Worte wegblieben.
Kaum waren sie zurück in Bellezza und er hatte Leonora und Arianna nach Hause begleitet, da rannte Lucien schnellstens zu Rodolfos Palazzo. Es war jetzt stockfinster und er konnte nicht sehen, dass nicht nur eine, sondern zwei Gestalten ihn aus den Schatten beobachteten.
Alfredo ließ ihn ein und Lucien nahm beim Hinaufrennen zwei Stufen auf einmal.
Die Tür des Laboratoriums öffnete sich, noch bevor er klopfen konnte, und außer Atem stürzte er ins Zimmer.
»Kann nicht bleiben… muss nach Hause, ehe Mum… Supermarkt… zu lange auf den Inseln geblieben… großes Durcheinander.«
Er sank in einen Stuhl und Rodolfo sah ihn mit ernster Miene an.
»Das habe ich in meinen Spiegeln gesehen. Ich habe dir erlaubt deinen Vormittagsunterricht sausen zu lassen – nicht dass du den ganzen Tag verschwindest und vergisst in deine eigene Welt zurückzukehren. Ich habe mir schon gedacht, dass du noch hier bist. Deshalb habe ich die Leuchtrakete abgefeuert.«
»Die habe ich nicht gesehen, aber man hat es mir erzählt«, sagte Lucien. »Aber das ist jetzt egal. Ich möchte Sie ganz dringend alle möglichen Dinge fragen –
über Doktor Dethridge und über Ariannas Großmutter und den Merlino-Fisch und die Glasmaske, aber ich muss gehen. Ich komme heute Abend wieder – ich meine, morgen früh.«
Er umklammerte das Buch und machte sich dran, in Meditation zu verfallen. Seine wirbelnden Gedanken beruhigten und
Weitere Kostenlose Bücher