Stadt der Masken strava1
ungefähr eine Stunde später ankamen. »Meine Güte, so spät schon? Du musst ja am Verhungern sein. Ich gehe mal in die Küche und schaue, was ich dir machen kann.«
»Nein, lass doch«, sagte Dad. »Bestimmt haben Lucien und Tom sich den ganzen Tag irgendwelches Zeug reingestopft. Lass uns einfach was beim Chinesen holen.« Lucien hatte sich den Schlaf aus den Augen gerieben, als er sie die Haustür aufschließen gehört hatte. Es schien heute sein Schicksal zu sein, mit kurzen Nickerchen auskommen zu müssen, aber er wusste, dass er nach Bellezza zurückmusste, sobald er ins Bett konnte, ohne Misstrauen zu erregen. Während sie bei dem chinesischen Essen saßen, erzählten ihm seine Eltern alles von ihrem Tag und fragten zum Glück nicht viel nach seinem. Sie warfen sich dauernd verschwörerische Blicke zu, doch Lucien war zu müde, um sie zu fragen, was sie da ausheckten. Die Augen fielen ihm zu. »Wohl heute ein bisschen über die Stränge geschlagen, was?«, meinte Dad und nahm ihm sanft die Gabel aus der Hand.
»Das kannst du wohl sagen«, erwiderte Lucien und gähnte. Er hatte ein Feuerwerk beobachtet, an dem er selbst mitgearbeitet hatte, war in einen stinkenden Kanal gesprungen, hatte einen Schatz herausgezogen und hatte außerdem einen Mordanschlag auf die unumschränkte Herrscherin des Landes verhindert. Doch laut sagte er: »Wie kann man bloß vom Videos gucken und Popcornessen so müde werden?«
»Dann mal ab ins Bett«, sagte Mum streng. »Wir wollen, dass du morgen ausgeruht bist. Wir müssen dir nämlich was erzählen.«
Normalerweise hätte Lucien bei so einem Köder zugeschnappt. Aber heute Abend nicht. Er stolperte hinauf in sein Bett und stöhnte, während seine Hand nach dem Notizbuch griff. Was würde er nicht alles dafür geben, mal eine Nacht richtig schlafen zu können!
Ein ganz normales Ruderboot pflügte durch die Wellen der Lagune. Es wurde von einem äußerst gut aussehenden jungen Mann gerudert und hatte einen einzigen Passagier an Bord: eine schlicht gekleidete Frau, immer noch hübsch, wenn auch nicht mehr jung. Sie war offensichtlich verheiratet, denn sie trug keine Maske.
Still saß sie da und sah zu den Inseln hinüber, während sie sich dem farbenfrohen Burlesca näherten.
Der Bootsmann legte an und erbot sich, seine Passagierin zu begleiten, doch sie lehnte ab. Stattdessen ließ sie sich einfach aus dem Boot helfen und machte sich mit ihrem Korb am Arm zu dem einzigen weißen Haus des Ortes auf. Der hübsche Fährmann zuckte mit den Schultern und ging, um sich etwas zu essen zu besorgen.
Paola Bellini kam an die Tür, während sie sich die Hände an der Schürze trocknete, doch als sie sah, wer ihre Besucherin war, hob sie ihre Hände erschrocken an den Mund.
»Kann ich eintreten, Mutter?«, sagte die Frau mit leiser Stimme. »Ich muss etwas mit dir besprechen.«
Als Lucien am Morgen nach dem Fest der Maddalena wieder in Rodolfos Laboratorium auftauchte, überraschte ihn die Wärme, mit der ihn sein Meister empfing.
Lucien hatte erwartet, dass er wegen der verlängerten Nacht verärgert sein würde, doch der Magier nahm seinen Schüler voller Zuneigung in die Arme, was er bisher noch nie getan hatte.
»Geht es dir gut?«, fragte Rodolfo und sah Lucien genau an. »Bist du mit deinen Eltern in Schwierigkeiten gekommen?«
»Nein, es lief ganz cool«, sagte Lucien etwas verlegen. Sie hatten letzte Nacht nicht viel Zeit zum Reden gehabt, weil Rodolfo ängstlich darauf bedacht gewesen war, beim Festessen in der Nähe der Duchessa zu bleiben. Jetzt hatte Lucien das Gefühl, erklären zu müssen, warum er in Bellezza geblieben war.
»Ich weiß, dass ich das Risiko nicht hätte eingehen dürfen«, sagte er, »aber ich wollte unbedingt das Feuerwerk sehen.« Wie er das so sagte, klang es kindisch und selbstsüchtig.
»Und wie fandest du es?«, fragte Rodolfo ernst.
»Es war genial«, sagte Lucien. »Noch besser, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber ich weiß, ich hätte es nicht tun dürfen. Es tut mir Leid.«
»Es muss dir nicht Leid tun«, erwiderte Rodolfo. »Wenn du nicht geblieben wärst, wäre Silvia ermordet worden.« Er sah Lucien mit forschendem Blick an. »Vielleicht bist du überhaupt deshalb hierher geschickt worden und der Talisman ist aus diesem Grund bei dir gelandet und nicht bei einem anderen.«
Er zog die Merlino-Klinge aus seinem Gürtel und reichte sie Lucien feierlich. Dann setzte er sich neben ihn und machte zum ersten Mal in Luciens Gegenwart
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