Stadt der Masken strava1
dich in meinen Diensten. Du sollst an der Scuola ausgebildet werden und einer meiner Mandoliers werden –
du bist doch noch nicht über fünfundzwanzig?«
Parola schüttelte den Kopf. »Ich bin neunzehn«, sagte er leise.
»Dann wird es ja Zeit, dass du einen anständigen Beruf erlernst«, erwiderte die Duchessa. »Du kannst doch nicht rumlaufen und für deinen Lebensunterhalt Leu
te erstechen.«
Luciens Eltern taten weiterhin geheimnisvoll. Ehe sein Vater zur Arbeit ging, zwinkerte er ihm seltsam zu und sagte: »Bis heute Abend.«
Seine Mutter hatte fast den ganzen Tag Unterricht. Doch beim Frühstück sagte sie: »Ich bin heute furchtbar beschäftigt, Lucien, aber beim Abendessen können wir dann reden.«
Worüber reden?, fragte sich Lucien, dem es gar nichts ausmachte, sich selbst überlassen zu sein. Er brauchte Zeit für sich selbst – um nachzudenken und um zu dösen. Seine Mutter war zwar den ganzen Tag außer Haus, aber er kam trotzdem nicht in Versuchung, nach Bellezza zurückzukehren, um zu sehen, was dort in der Nacht passierte. Er hatte allmählich ein ungutes Gefühl, wenn er an seine nächtlichen Besuche der Stadt dachte. Die Situation dort wurde gefährlicher. Es waren nur Glück und der Überraschungseffekt gewesen, die Lucien zum Helden des Attentatversuchs gemacht hatten. Wie leicht hätte er auch ein Opfer sein können! Er überlegte, was wohl mit seinem Körper hier in seiner eigenen Welt geschehen wäre, wenn er in Bellezza erstochen worden wäre. Hätten Mum oder Dad, wenn sie ins Zimmer gekommen wären, ihn in einer Lache Blut im Bett aufgefunden?
Seine Phantasie verstieg sich in immer neue Bilder. Angenommen, sie hätten dann in London eine Jagd nach dem Mörder veranstaltet? Man hätte nie einen Täter gefunden und er wäre in der Statistik der unzähligen ungelösten Fälle verschwunden. Und sein Körper in Bellezza? Hätte der sich wohl einfach aufgelöst?
Wenn der Attentäter Erfolg gehabt hätte, würde überhaupt jemand erfahren haben, dass er gestorben war, während er die Duchessa verteidigte?
Die Fragen ließen sich alle nicht beantworten, daher fiel Lucien schließlich bis zum Mittagessen in tiefen Schlaf. Er träumte von einer Gerichtsverhandlung, bei der der Attentäter aus Bellezza, der aus unerfindlichen Gründen immer noch den Merlino-Dolch in Händen hielt, in einem sehr modernen Zeugenstand auftrat und sagte: »Ohne Leiche können Sie nicht beweisen, dass ich ihn getötet habe.« Von dem Dolch tropfte Blut über den ganzen Boden des Gerichtssaals und im Traum wusste Lucien irgendwie, dass das sein Blut war.
Im Norden der Stadt war ein kleiner Kanal, auf dem die angehenden Mandoliers ihre Kunstfertigkeit erlernten. Dorthin kamen keine Besucher oder Reisenden; es handelte sich im wahrsten Sinne des Wortes um einen toten Arm des Kanalsystems. Er war so schmal, dass sich die Häuser zu beiden Seiten dicht gegenüberstanden. Zwei davon waren im obersten Geschoss durch eine kleine Brücke miteinander verbunden. Diese Häuser gehörten Egidio und Fiorentino, den älteren Brüdern Rodolfos.
Sie waren beide noch recht attraktive Männer, obwohl Egidio mit fünfundvierzig für einen Bellezzaner ziemlich alt war. Wenn sie daheim waren – in dem einen oder dem anderen Haus – oder wenn sie gerade auf ihrer kleinen Brücke über den Kanal gingen, amüsierten sich die beiden Brüder oft über die Anstrengungen der neu eingestellten Mandoliers.
Als sie jung gewesen waren, hatten sie zu den besten Mandoliers in Bellezza gezählt – und auch zu den bestaussehenden. Sie hatten die große Barke für die Vermählung mit dem Meer gesteuert und sie hatten gut verdient, indem sie Besucher den Großen Kanal auf und ab fuhren. Mit fünfundzwanzig waren sie wie alle Mandoliers von der Duchessa mit einer großzügigen Pension versehen worden. Allein deswegen wären sie ihr immer zu Dank verpflichtet gewesen – wenn nicht sogar für mehr.
Egidio eröffnete einen Laden, in dem Papierwaren und Bücher und Stifte verkauft wurden, die alle mit dem marmorierten Muster versehen waren, das auch den Einband von Luciens Notizbuch zierte. Im Lauf der Jahre, als Rodolfo sein Laboratorium im Palazzo neben dem der Duchessa eingerichtet hatte, verbesserten seine Fertigkeiten Egidios Angebot noch so weit, dass es in ganz Europa berühmt wurde. Sein Laden in einer kleinen Gasse beim Dom war immer voller Besucher.
Fiorentino hatte ein Talent fürs Kochen und mit dem Geld der Duchessa ein Lokal auf
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