Stadt der Masken strava1
das Zeichen der Glückshand. »Durch die Macht der Göttin, ihres Gemahls und ihres Sohnes ist Silvias Lebenskreis unversehrt geblieben. Verstehst du?«
»Nicht ganz«, sagte Lucien. Mit unbehaglichem Gefühl steckte er den Dolch weg, als er daran dachte, wofür er bestimmt gewesen war. »Wer sind die Göttin und die anderen? Und was hat das alles mit mir zu tun?«
»Das ist unsere alte Religion«, sagte Rodolfo, »die wir vor dem Christentum hatten. Im ganzen östlichen Raum des Mittleren Meers glaubten die Menschen an eine Göttin und ihren Gemahl.«
»Und er war wohl auch ein Gott?«, fragte Lucien.
»Ja, wenn auch nicht so mächtig wie sie. Selbst sein Sohn war mächtiger als er.
Einige glauben, dass ihr Gemahl ursprünglich ihr Sohn war und erst später, als Inzest zum Tabu wurde, wurde der Gatte für sie erfunden – und aus dem Grund ist er auch eher eine Hintergrundfigur. Der Sohn ist fast immer so sehr verehrt worden wie seine Mutter. Als dann das Christentum kam, durften all die heidnischen Statuen der Göttin und ihres Sohnes bleiben. Man definierte sie einfach um in die Mutter Gottes und den neuen Heiland.«
Rodolfo sah Lucien erwartungsvoll an.
»Tut mir Leid«, erwiderte Lucien. »Wir sind Anglikaner – Protestanten. Ich kenn mich nicht besonders aus mit Ihrer Mutter Gottes – also, der von den Katholiken.«
Rodolfo runzelte die Stirn. »Was sind Protestanten? Und was sind Katholiken?«
Lucien war überrascht. »Ach, Sie wissen doch, Heinrich der Achte und so weiter.
Er wollte Anna Boleyn heiraten und der Papst hat es nicht gestattet, weil er schon mal verheiratet gewesen war. Da hat er einfach seine eigene Kirche gegründet.«
Nun sah Rodolfo erstaunt aus. »Davon hat Doktor Dethridge nie etwas erzählt. In unserer Welt hat euer England – Anglia, wie wir es nennen – dieselbe Kirche wie wir, die vom Papst regiert wird.«
»Tja, in der Zeit von Doktor Dethridge war das ein heikles Thema«, erklärte Lucien. »Nachdem Heinrich gestorben war und sein Sohn ebenfalls, ließ seine Tochter Mary Menschen umbringen, die der neuen Religion des Königs anhingen. Und in Dethridges Zeit ließ dann Königin Elisabeth die Leute umbringen, die an die andere Religion glaubten, an die katholische.«
»Katholiken nennt ihr also diejenigen, die an die alte Form des Christentums glauben?«
»Ja, römisch-katholisch, sagen wir, wahrscheinlich, weil der Papst in Rom lebt.«
»Faszinierend«, sagte Rodolfo. »Hier lebt der Papst in Remora, der Hauptstadt der Föderation. Eines Tages muss ich dir erzählen, wie Remus Remora gegründet hat, nachdem er seinen Bruder Romulus umgebracht hatte. Aber jetzt, wo wir Doktor Dethridge wieder gefunden haben und er ein Bürger von Talia ist, muss ich ihn dazu bewegen, mir alles über Anglia und seine Religion zu erzählen.«
»Wie dem auch sei«, erinnerte ihn Lucien, »zurück zu der Göttin.«
»Die Lagunenbewohner gehören zu den letzten Menschen des Mittleren Meers, die an dem alten Glauben festhalten«, fuhr Rodolfo fort. »Sie haben das Christentum akzeptiert, weil sie es mussten. Sie bauen Kirchen und gehen zur Messe, wie du erlebt hast. Aber tief im Herzen glauben sie, dass es die Göttin ist, die über sie wacht und auch über Bellezza. Deshalb wurde die Stadt seit jeher von einer Frau regiert, von der Duchessa. Ein männlicher Gott sagte ihnen eigentlich nie richtig zu, genauso wenig übrigens wie ein männlicher Heiland. Und schon gar nicht ein männlicher Herrscher.«
»Sie scheinen die Duchessa ja förmlich wie eine Göttin zu verehren«, sagte Lucien, der an die fanatische Menge am Abend zuvor dachte und an das ansteckende Delirium, das auch ihn in den Kanal getrieben hatte.
»Das stimmt«, sagte Rodolfo schlicht. »Sie ist für sie die personifizierte Göttin.
Deshalb liegt ihnen ihr Wohlergehen auch so am Herzen.«
»Sie glauben also nicht, dass der Attentäter einer aus Bellezza sein könnte?«
»Ich weiß es nicht; ich habe ihn noch nicht gesehen«, erwiderte Rodolfo finster.
»Aber wenn die Leute je erfahren würden, dass du das Leben der Duchessa gerettet hast, wären sie überzeugt, dass du von der Göttin gesandt worden bist. Du wärst ein Held.«
»Sie haben gestern Abend gesagt, dass wir es keinen wissen lassen dürfen«, sagte Lucien. »Das geht in Ordnung, ich hab ja sowieso nicht gewusst, was ich da tue, und ein Held oder so was will ich auch nicht sein. Aber finden Sie nicht, die Leute sollten wissen, dass jemand die Duchessa
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