Stadt der Masken strava1
vermeiden, und die meiste Zeit erwies er sich als guter Fremdenführer. »Deine Lektüre hat sich ja wirklich bezahlt gemacht«, meinte Dad.
Heute machten sie eine Bootsfahrt zu den Inseln und Lucien musste aufpassen, dass er mit den Namen zurechtkam. Merlino war Murano, Burlesca war Burano und Torrone hieß Torcello. Das Boot brachte sie zuerst nach Murano mit seinen endlosen Glasläden und den Kundenfängern, die davor lauerten, sich auf die Touristen stürzten und sie hinein in ihre »Manufakturen« schleppten, damit sie beim Glasblasen zusehen konnten. »Ingresso libero«, las Dad von einer der Türen ab.
»Aber bedeutet das nicht ›Eintritt frei‹? Was heißt denn das, Eintritt frei, verflixt noch mal, das sind doch schließlich Läden!« Keinem von ihnen gefielen die leuchtend bunten und unglaublich teuren Glassachen besonders, obwohl Lucien einen schlichten, kleinen Glaswidder kaufte, jedoch ohne Flügel. Gerne hätte er seinen Eltern erzählt, wie das echte Lagunenglas aussehen konnte. Das Museum war nichts im Vergleich mit den Schausälen auf Merlino. Es gab keinen Glasmeister und keine Schicksalsmaske. Seine Eltern interessierten sich für die antiken, leicht beschädigten Schalen und Krüge, aber Lucien langweilte sich bald so sehr, dass er sich in den kühlen Innenhof mit dem Kreuzgang setzte, in dem halb verwilderte Katzen im langen Gras tollten.
Das Schönste an Murano war ihr Mittagessen in einem Restaurant am Kanal. Sie saßen auf einer kleinen Terrasse direkt am Wasser. Gegenüber lag eine uralte
Kirche, über die Mums Führer zu berichten wusste, dass sie die Reliquien eines Drachens enthielt, der vom Speichel eines Heiligen getötet worden war.
Burano ähnelte seinem talianischen Ebenbild schon mehr, nur dass es kein einziges weißes Häuschen gab, sosehr Lucien auch Ausschau hielt.
»Ach, seht euch nur diese Spitze an!«, rief Mum aus und mit Herzklopfen bemerkte Lucien eine weißhaarige alte Frau, die vor ihrer Tür saß und Spitzen klöppelte. Das Haus war blau und die Arbeit war nicht so fein wie die von Paola, aber sie war dennoch schön und Lucien war begeistert, dass seine Mutter sie entdeckt hatte.
Er bestand darauf, ihr eine Tischdecke zu kaufen, obwohl er dafür fast sein gesamtes Geld brauchte, das er mit nach Venedig gebracht hatte.
»Nein, Lucien, das darfst du doch nicht«, wehrte sie sich, aber er ließ sich durch nichts abhalten. »Erinnerst du dich an meinen Traum«, sagte er, »der von der Spitze – als du mich nicht aufwecken konntest? Ich möchte dir das ehrlich schenken.«
Arianna war verblüfft. Mit Mühe gelang es der Duchessa, ihre Fassung wieder zu gewinnen, dann fing sie mit einer Geschichte an, die so unwahrscheinlich klang, dass Arianna sie kaum glauben mochte.
»Du hältst dich doch für das Kind von Valeria und Gianfranco Gasparini, nicht wahr?«, fragte die Duchessa.
»Ich halte mich dafür? Nein, ich weiß, dass ich ihr Kind bin«, erwiderte Arianna.
»Ja, ich kenne deine Geschichte«, sagte die Duchessa. »Die Tochter der Insel, das einzige Kind, das seit langem auf Torrone geboren wurde. Aber es stimmt leider nicht.«
»Was stimmt nicht?«
»Dass du auf Torrone geboren wurdest. Du bist hier in Bellezza geboren, genau in diesem Palast, und dann bist du auf die Insel geschmuggelt worden, als du kaum ein paar Stunden alt warst.«
»Ich glaube Euch nicht«, sagte Arianna. »Wie könnt Ihr das wissen?«
»Weil ich zufällig bei deiner Geburt anwesend war«, sagte die Duchessa mit einem Anflug von Humor. »Genau genommen war ich ziemlich direkt daran beteiligt. Kannst du nicht erraten, inwiefern?«
Arianna versuchte sich die Duchessa als Hebamme vorzustellen, was ihr aber nicht gelang.
»Ich habe dich selbst geboren«, sagte die Duchessa sanft. »Du bist meine Tochter, Arianna, und ich habe dich von meiner ältesten Schwester Valeria und ihrem Mann aufziehen lassen.«
In Ariannas Kopf begann sich alles zu drehen. Valeria und Gianfranco nicht ihre Eltern? Das war, als würde man behaupten, Bellezza sei nicht Bellezza. Es klang schlicht unwahrscheinlich. Und die Duchessa ihre Mutter? Alles, was Arianna bis heute über sich selbst gewusst hatte, schien nicht zu stimmen. Doch unter all den Gefühlen, die in ihr tobten, kämpfte sich ein Gedanke nach oben: Wenn sie in Bellezza geboren war, dann hatte sie sich an der Giornata Vietata ja doch keines Verbrechens schuldig gemacht! Sie würde nicht auf dem Scheiterhaufen enden! An diesem Gedanken klammerte
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