Stadt der Masken strava1
rasch. Als er sich umsah, bemerkte er, dass nur Touristen durch die Lücke gingen; alle Einheimischen machten einen Bogen um die Pfeiler herum, selbst wenn es einen Umweg bedeutete. Lucien beschloss, im Stadtführer seiner Mutter darüber nachzulesen.
»Hier steht«, sagte seine Mutter gerade, »dass man für die Vaporetti eine Dauerkarte kaufen kann. Komm, das machen wir, David. Wir nehmen drei Wochenkarten und fahren wie richtige Venezianer überall per Schiff hin.« Lucien musste über ihre Begeisterung lächeln und sie lächelte zurück. Es war echt nett von seinen Eltern, ihn auf diese tolle Ferienreise mitzunehmen, und er war entschlossen sie voll und ganz zu genießen. Er war zwar vielleicht schon ein wenig alt für Ferien mit den Eltern, doch als ihr einziges Kind war er immer gut mit ihnen ausgekommen und hatte sich in ihrer Gesellschaft wohl gefühlt. Jetzt stand er auf dem Anleger von San Marco und sah hinüber zu der riesigen Kuppelkirche della Salute, die ungefähr dort stand, wo sich in Bellezza die Chiesa delle Grazie befand.
Von hier hatte die Brücke der Barken die falsche Duchessa zur Kirche hinübergetragen. während die echte von dem Attentäter bedroht worden war und Lucien auf Schatzsuche in den schmutzigen Kanal gesprungen war.
Die Barkasse kam und sie fuhren die fünf Stationen bis zum Rialto, immer kreuz und quer über den Kanal. Venedig war so viel lauter als Bellezza, dass es in Luciens Vorstellungskraft die talianische Stadt manchmal ganz und gar überdeckte.
Das traf vor allem auf dem Rialto zu, wo billiger Kitsch für Touristen und gleichzeitig unbezahlbarer Goldschmuck angeboten wurde.
Das Einzige, was Lucien an Bellezza erinnerte, waren die Masken, die in unzähligen Läden und an Ständen angeboten wurden. Viele der venezianischen Masken bedeckten das gesamte Gesicht und wurden mit einem vergoldeten Stock davor getragen. Aber manche sahen auch mehr wie die der Duchessa oder wie die anderer bellezzanischer Frauen aus. Sie bedeckten nur die Augen und den Nasenrücken. In Venedig wurden sie von einem Gummiband gehalten, während die Masken in Bellezza mit einem Samt- oder Seidenband festgebunden wurden.
»Möchtest du gerne eine?«, fragte Dad, als er sah, wie Lucien die Masken anstarrte.
»Nein, nein, danke Dad. Oder doch, ich hätte schon gerne eine, aber ich hab noch keine entdeckt, die mir wirklich gefällt.«
»Es gibt ja genug, was?«, meinte Mum. »Ich könnte wetten, dass von diesen venezianischen Masken hunderte mehr als Schmuck in den Wohnungen der Leute in der ganzen Welt herumhängen als je auf dem Karneval getragen werden.«
»Was ist eigentlich das für eine mit der Schnabelnase? Fast jeder Laden hat sie«, sagte Dad.
Mum zog ihr Buch zu Rate. »Das ist die Maske des Pestdoktors. Anscheinend hat die Pest hier im sechzehnten Jahrhundert ganz besonders schlimm gewütet und die Ärzte haben diese Masken getragen, um sich vor den Bazillen zu schützen.«
»Aber im sechzehnten Jahrhundert wusste man doch noch gar nichts von Bazillen, oder?«, meinte Lucien und seine Eltern fingen mit einem ihrer langen Gespräche an, die von einem zum nächsten Punkt sprangen und die Lucien in- und auswendig kannte. Er wusste, dass er sich einfach ausklinken konnte. Während sie zum Markusplatz zurückgingen, dachte er über die Pest nach, die ein Drittel der Bevölkerung Bellezzas ausgelöscht hatte, kurz bevor Arianna geboren worden war. Wenn die Ärzte gewusst hätten, wie sich die Krankheit verbreitete, dann hätte sie doch sicher nicht so viele Opfer dahingerafft?
»Das ist doch nicht zu fassen!«, sagte Mum plötzlich laut, als sei sie selbst auf eine Bazille gestoßen. »Das ist ja abscheulich!«
Lucien schaute, wo sie hindeutete. Dort, in der Ecke eines Platzes, gab es einen McDonald’s. Seine Mutter schäumte regelrecht. Sie hatte eine leidenschaftliche Antihaltung gegenüber allem, was sie die Verschmutzung der schönsten europäischen Städte durch amerikanische Ketten nannte. »Na, Lucien, wie wär’s mit einem BigMäc und ein paar Pommes?«, fragte Dad augenzwinkernd. »Reg sie nicht noch zusätzlich auf, Dad«, erwiderte Lucien lachend. »Vielleicht könnten wir uns
‘n Stück Pizza genehmigen?«
Als sie einen Imbiss gefunden hatten, wo man Pizza-Stücke und belegte Brote und kalte Getränke in Dosen bekam, setzten sie sich auf die Steinumrandung eines Brunnens in der Mitte des Platzes und beobachteten beim Verzehren ihres Mittagsmahls die anderen Touristen.
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