Stadt der Sterne strava2
sich deshalb so komisch gefühlt hatte. »Der glücklichste Tag meines Lebens.« Was nicht stimmte. Der glücklichste Tag ihres Lebens war der gewesen, an dem sie die Stellata gewonnen hatte und von Lucien geküsst worden war, doch davon konnte sie weder Alice noch irgendjemand sonst erzählen. Ein bisschen machte sie das traurig. Außerdem war sie so ruhelos. Als sich der fünfzehnte August dieses Jahr wieder genähert hatte, war es ihr unerträglich gewesen, sich vorzustellen, was gerade in Remora los war. Sie und Falco oder Nicholas, wie sie ihn jetzt nennen musste, hatten den Tag miteinander verbracht und über das Rennen geredet und sich gefragt, welche Pferde und Reiter teilnehmen und ob die Chimici dieses Jahr wohl gewinnen würden.
Dann war der Jahrestag von Falcos Transfiguration gekommen und er war deprimiert gewesen und hatte Heimweh gehabt. Sie sprachen öfters darüber, dass er die Feder nehmen und versuchen könnte einen Tag auf Besuch nach Talia zu reisen, doch Falco wollte nicht ohne Georgia reisen und ihr Talisman war ja verschwunden.
Georgia seufzte. Sie hatte gehofft, dass sie Lucien im Verlauf eines ganzen Jahres vielleicht irgendwann mal sehen würde. Sie hatte mit dem Geigenunterricht weitergemacht und natürlich war sie auch sonst oft im Haus der Mulhollands und besuchte Nicholas. Aber von Lucien war keine Spur zu sehen gewesen.
»Woran denkst du?«, sagte Alice. »Das war ja gerade ein tiefer Seufzer.«
»Hast du je von dem Jungen gehört, der in der Klasse über uns war und vor zwei Jahren gestorben ist?«
»Du meinst den hübschen mit den dunklen Locken? Was ist mit ihm?«
»Nichts weiter«, sagte Georgia. »Ich hab ihn immer im Schulorchester gesehen.
Ich mochte ihn echt.«
»Tatsächlich?«, sagte Alice. »Davon hast du nie erzählt.«
»Hatte ja auch wohl wenig Sinn, oder? Kann man nichts machen. Ich werde ihn nie wieder sehen.« Und ihr wurde klar, dass das stimmte. Sie würde wieder um ihn trauern müssen. Alice machte ein besorgtes Gesicht. Doch in dem Moment läutete die Schulglocke und sie konnten nicht in Ruhe weiterreden. Schüler aller Klassen strömten in den Sonnenschein und freuten sich an den letzten Sommer
tagen. »Dein Freund Nicholas ist ihm ein bisschen ähnlich, findest du nicht?«, sagte Alice überraschenderweise. Eine Gruppe aus der neunten Klasse betrat ge
rade den Schulhof, aus der sich ein drahtiger Junge mit einem Lockenkopf löste und auf das Rasenstück, wo sie saßen, zukam.
Georgia hob schützend die Hand über die Augen und sah Nicholas entgegen. Es war gut, hinter ihm auf dem Asphalt seinen Schatten zu sehen.
Lucien arbeitete mit Rodolfo und Dethridge im Laboratorium seines Meisters in Bellezza. Seit sie aus Remora zurück waren, hatten sich die Stravaganti Sorgen um die Folgen von Falcos Tod gemacht. Zunächst, weil sie Vergeltungsmaßnahmen von Seiten des Herzogs befürchteten. Aber auch, weil Rodolfo überzeugt war, dass eine Verschiebung in dem Übergangsportal stattgefunden hatte. Nach der Transfiguration von William Dethridge hatte sich die Welt, aus der Lucien kam, immer weiter vom sechzehnten Jahrhundert in Talia entfernt, das Vorauseilen der Zeit war dann aber nach Luciens erstem Besuch langsamer geworden.
Monatelang war der Übergang stabil geblieben, doch als Lucien endgültig in Talia festsaß, war er wieder außer Kontrolle geraten und hatte sich verschoben. Allerdings nur um ein paar Wochen und alle drei Stravaganti hatten sich zusammen bemüht ihn wieder zu stabilisieren, bis die beiden Welten wieder übereinstimmten – abgesehen von den vier Jahrhunderten oder mehr, die sie trennten.
Doch nach Falcos Tod war wieder ein Ruck entstanden in der anderen Welt. Und sie versuchten immer noch festzustellen, um wie viel sie vorausgeeilt war. Rodolfo hatte weiterhin einen Spiegel auf Luciens altes Zimmer ausgerichtet. Lucien selbst riet er allerdings davon ab, hineinzusehen.
Die beiden älteren Stravaganti hatten das Leben des jungen Talianers in Anglia mit seinen ständig wechselnden Bildern beobachtet. Wenn sie gewusst hätten, was ein Video auf Schnellvorlauf ist, dann hätten sie es vielleicht damit verglichen. Aber so sahen sie nur, dass Falco plötzlich fort war und dann mit eingegipstem Bein zurückkam. Sie sahen, wie er allmählich kräftiger wurde und Übungen machte, und eines Tages war der Gips weg und er lief nur noch mit einer Krücke herum.
Sie versuchten den Ablauf der Jahreszeiten vom Licht abzulesen, das durch sein
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