Stadt der tausend Sonnen
frischen Erdhaufen vorbeikamen.
»Das habt ihr friedlichen Bürger mit uns Dissis gemacht«, zischte Raye.
Jon hörte, wie Alter einen Schmerzenslaut ausstieß. Aber da man sie hinter ihm herstieß, konnte er nicht sehen, was sie ihr getan hatten. Sie näherten sich der Reihe von Aquarienwagen, die aneinander angeschlossen waren. Er bemühte sich zu verstehen, worüber die Burschen hinter ihnen sich unterhielten.
»Wer von den beiden, glaubst du, wird versuchen, den anderen zu retten? Und wer, glaubst du, wird kneifen?«
»Na, wirf schon. Kopf, wir binden ihn, und das Mädchen soll versuchen, ihm zu helfen; Adler, wir binden das Mädchen, und schauen, was er macht.«
»Wir wollen es lieber nicht dem Zufall überlassen. Wir binden das Mädchen und werfen ihn mit einem Messer hinein.«
»Wetten, daß er ein Feigling ist und sie im Stich läßt?«
»Ja, aber wenn wir ihn binden, dann wird sie versuchen, sich in Sicherheit zu bringen«, protestierte der andere.
Lyns autoritative Stimme beendete den Streit. »Wir binden das Mädchen und geben ihm das Messer. Er wird sie bestimmt nicht ohne Kampf an sie heranlassen.«
Alter wurde vor Jon geschoben und einer band ihre Handgelenke. Dann stieß man sie und ihn auf die Aquarienwagen zu. Im Mondlicht sahen sie dunkle Schatten durch das beschmutzte und mit Algen durchzogene Wasser huschen. Die Tanks waren schon lange nicht mehr gesäubert worden. Der Riesentintenfisch, der Stolz des Zirkus, war vermutlich als erster eingegangen. Die Delphine waren höchstwahrscheinlich die nächsten gewesen – vergiftet durch das ungefilterte Wasser. Der Teufelsrochen hatte bestimmt am längsten durchgehalten, aber jetzt trieb auch er mit dem Bauch nach oben auf der schmutzschäumenden Oberfläche. Von den großen Meerestieren hatten lediglich die Haie überlebt. Sie schwammen gemächlich hin und her und stießen ab und zu mit den Nasen an das Glas.
Am Rand eines Wagens war eine Plattform mit einer Holzleiter errichtet worden. Man zerrte Jon und Alter hinauf. Was als nächstes geschah, spielte sich in Jons Gehirn ab. Er sammelte verstreute Bruchstücke von Gehörtem und Gelerntem und überlegte blitzschnell. Er hatte zwar immer noch Angst, aber er sah einen Hoffnungsschimmer.
Die Tanks waren ursprünglich durch ein Schleusensystem getrennt gewesen, das es ermöglicht hatte, jeden Tank einzeln zu leeren und zu säubern. Aber als die Tiere starben, hatte man die Zweimeterwand zwischen den Wagen entfernt und mehr Wasser eingefüllt, bis die Tankreihe bis zum Rand voll war. Geöffnet und verbunden bildete sie einen einzigen, trogähnlichen Tank mit einer Breite von vier und einer Länge von fünf Metern. Jeder der Haie, deren Bewegung man im Mondschein sehen konnte, wog gut zweihundert bis zweihundertzwanzig Kilo – Triton hatte sie nach Größe erstanden.
Die Tankseiten waren nach innen überhängend, um zu verhindern, daß die Tiere entkamen. Raye schubste die gefesselte Alter ins Wasser. Jon holte tief Luft und tauchte ihr nach. Er rollte sich zusammen und befreite sich von einer Sandale. Der Druck in seinen Ohren ließ nach, was bedeutete, daß er bereits am Auftauchen war. Er zerrte die zweite Sandale vom Fuß, sein Kopf stieß an die Oberfläche. Er warf ihn zurück, um das Wasser aus seinem Gesicht zu schütteln. Dann sah er sich schnell um und trennte in seinem Verstand das Wichtige von Unwichtigem. Alters Kopf schaukelte rhythmisch am vorderen Ende des Tankes. Mit den richtigen Fußbewegungen kann ein guter Schwimmer selbst mit gebundenen Händen längere Zeit Wassertreten, und Alter war eine gute Schwimmerin (wichtig!).
»He, du!« Einer der Dissis – ein Mädchen (unwichtig!) – warf etwas – ein Messer (wichtig!) – ins Wasser. Er tauchte ihm nach und überlegte: soll ich Alters Fessel durchschneiden … Der Gedanke mußte als unwichtig abgelegt werden, denn als er die Klinge vom Tankboden aufhob, stellte er fest, wie scharf sie war. Da sie beide sich ständig im Wasser bewegen mußten, wäre es unmöglich, den Strick durchzuschneiden, ohne Alter oder sich selbst zu verletzen. Blut im Wasser aber bedeutete den Tod.
Waren die anderen vor ihnen auf diese Weise gestorben? (Unwichtig!) Er schwamm unter Wasser und tauchte erst nach etwa dreizehn Meter wieder auf, holte tief Luft und schwamm weiter. Wie lange würde es dauern, bis die Neugier der Haie erwachte? Sekunden? Minuten? Je weiter er und Alter sich entfernt befanden, desto größer würde die Unentschlossenheit der
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