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Stadt der tausend Sonnen

Stadt der tausend Sonnen

Titel: Stadt der tausend Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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werden.«
    Etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang legte der Frachter an. Gegen Mittag erst würde er seine neue Ladung an Bord nehmen, wenn die meisten der Passagiere bereits an Land gegangen waren. »Wollen Sie nicht doch warten, bis es Tag ist?« fragte der alte Seemann. Er saß auf einem umgedrehten Eimer und schnitzte eine Reihe von Totemgesichtern in einen Besenstiel. »Es gibt eine Menge Dissis hier, und die Nacht ist ihr Revier.« Er hielt den Stock mit den Zehen fest und gab ein paar verzerrt grinsenden Dämonenfratzen den letzten Schliff.
    »Wir wollen möglichst schnell weiter«, sagte Jon.
    Der Mond hing groß und tief am Horizont. Als der Matrose ihnen zunickte, schwang der dünne Schatten des geschnitzten Besenstiels über das Deck.
    »Was ist das?« fragte Alter und deutete auf einen großen Schatten am Ende des Kais.
    Der Seemann blickte auf. »Das Zirkusschiff.«
    »Was ist los damit?« Es lag schräg, und sogar im schwachen Mondschein sah man die schwarzen Blasen auf einem Teil der rotgoldenen Schiffshülle.
    »Na, was glauben Sie? Ich sagte Ihnen doch, daß es hier Dissis gibt. Das passierte vor etwa einem Monat.«
    »Was passierte?« fragte Jon.
    »Als der Zirkus zurückkam für seine Festlandtournee, überfielen ihn die Dissis. Sie legten Feuer ans Schiff und richteten eine furchtbare Verwüstung im Zirkus selbst an. Sie haben eine Menge Leute umgebracht …«
    »Umgebracht?« Alter starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
    Der Seemann nickte.
    »O Jon!« Sie blickte auf das Wrack. »Ich habe selbst zu dem Zirkus gehört …«
    »Komm.« Er legte die Hand auf ihren Arm, und sie stiegen die Laufplanke hinunter. Doch mehrmals drehte Alter den Kopf, um immer wieder einen Blick auf das ausgebrannte Schiff zu werfen.
    Sie schritten den Pier entlang. »Glaubst du, Clea, Catham und Nonik sind vielleicht irgendwo in der Nähe?«
    »Warum sollten sie?«
    »Clea arbeitete doch für den Zirkus. Vielleicht hatte sie etwas vergessen und kam, um es zu holen.« In einer Wiese hoben sich Zelte vom tiefhängenden Mond ab. »Sie sind vermutlich nicht mehr hier, aber möglicherweise vorbeigekommen.«
    »Ich kann dir ihr früheres Zelt zeigen.« Sie gingen auf die Wiese zu. Der Wind neigte die Halme dem Meer entgegen. Sie kamen zu einem Zelt, doch als sie durch den Eingang treten wollten, hielt ein Mann sie an.
    »Was wollen Sie hier?« Er trug eine Armeeuniform, aber seine ärmellose Weste war zweifellos die eines Fischers. Sein blondes Haar hatte den Bürstenschnitt des Militärs, war jedoch schon mindestens drei Monate nicht mehr nachgestutzt worden.
    »Wir möchten nur in den Zelten nachsehen«, antwortete Jon.
    »Wir haben es nicht gern, wenn Fremde sich herumtreiben. Es ist allerhand mit den Dissis hier los. Die Dorfbewohner«, er deutete mit dem Kinn auf die paar Häuser jenseits der Wiese, »wollen keine Fremden in der Gegend. Dissis haben vergangene Woche ihr Dorf überfallen, ein paar Leute wurden getötet. Die Dissis stahlen nichts, aber sie haben eine ganz schöne Verwüstung hinterlassen.«
    Jon runzelte die Stirn, als das Zelttuch sich bewegte. »He, Lyn! Was ist da draußen los?«
    Der Mann mit der Soldatenhose rief über die Schulter. »Ich weiß es selbst noch nicht, Raye.«
    Ein jüngerer, dunklerer Mann, ebenfalls in Uniformteile gekleidet, trat aus dem Zelt. »Glaubst du, sie sind Dissis?« fragte er.
    »Wir sind keine Dissis«, versicherte ihm Alter. »Hat das Dorf Sie als Schutz gegen Dissis in den Zelten einquartiert?«
    »Könnte schon sein.« Lyn lachte. Da fing auch Raye zu lachen an, und jemand hinter ihnen stimmte in das Gelächter mit ein. Jon und Alter drehten sich um. Mindestens zwanzig Leute standen im Halbkreis hinter ihnen, die meisten waren grünäugig und dunkel. Viele trugen ebenfalls Uniformteile. Zwei Mädchen befanden sich unter ihnen. Das Gelächter wurde immer lauter. »Sie sagen, sie sind keine Dissis«, rief Lyn. Das Gelächter verstummte.
    Jon hatte Angst. Seine Gedanken überschlugen sich.
    »Aber ihr könnt es nicht beweisen«, rief jemand.
    »Ihr wißt ja, was wir mit – Dissis machen.«
    »Kommt, wir zeigen ihnen, was wir mit Dissis machen!«
    Sekunden später stießen sie Jon und Alter, deren Hände sie verschränkt auf dem Rücken hielten, zwischen den Zelten hindurch. Ein Mann versetzte Jon einen heftigen Kinnhaken. Es schmerzte, aber Jon überlegte methodisch und schnell. Raye, der seine Hände festhielt, zerrte ihn ein wenig seitwärts, als sie an ein paar

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