Stadt der tausend Sonnen
stolperte weiter. Er torkelte, bis die Blätter gegen sein Gesicht streiften und das Schreien hinter ihnen aufgehört hatte.
Fünf Minuten später erreichten sie eine Lichtung, wo Felsen eine etwa sechs Meter hohe Erhebung bildeten. Auf dem Kamm blickte Jon sich um. Das Grau des nahenden Morgens bedeckte bereits ein Viertel des Himmels. Die Bäume warfen einen vom Schein des untergehenden Mondes und dem Rot der aufgehenden Sonne geformten Doppelschatten. Alter ließ sich müde auf einen Felsbrocken nieder. Sie streifte das lange Haar zurück und türmte es zu einem Helm auf. Plötzlich beugte sie sich nach vorn, als versuche sie das bißchen Kraft, das noch in ihrem Körper steckte, zu konservieren.
Zur gleichen Zeit fühlte Jon die ungeheuere Anspannung seiner Muskeln und Nerven nachlassen, die seinen Körper zu einer Überlebensmaschine gemacht hatte, und er spürte die bleierne Schwere jedes einzelnen Muskels und Knochens. Er ließ sich neben sie fallen. Sie hob den Kopf und blickte ihn an. Leise und verwundert murmelte sie: »Wir sind in Sicherheit!«
Jon drückte seinen Kopf gegen ihre Schulter, wie sie es in einem ähnlichen Augenblick bei ihm getan hatte, und entspannte sich in der Wirklichkeit nasser Haut gegen nasse Haut. Sie legte sanft die Hand auf seinen Nacken, und nach einer kurzen Weile hob er den Kopf und sah sie an.
Der Wind fing sich in den Zweigen und spielte mit den Blättern.
»Ich kann deine Augen sehen«, flüsterte Jon. »Es ist nun hell genug, daß ich deine Augen sehen kann.«
8.
Jeder sucht seine innere Reife in einer ganz bestimmten Richtung. Er betrachtet alles, was geschieht aus dieser Richtung und sieht es von einer Seite, aber vielleicht nicht von der gleichen, aus der ein anderer dasselbe wahrnimmt. Als Alter in Toron die Königin anflehte: »Tun Sie doch einmal in Ihrem Leben etwas Gutes!« drehte ein Dissi, dem sie schon einmal begegnet waren, sich um und watete durch die überschwemmte Gasse davon. Es war Kino.
Es ist unmöglich, das ganze Leben dieses Jungen aus der Gosse rückwärts laufen zu lassen, um zu ergründen, weshalb ausgerechnet dieser Satz, den er von vielen anderen mitgehört hatte, ihn so tief beeinflußte, daß er ihn nicht, wie das meiste andere, das er gesehen und erlebt hatte, vergaß. Er erkannte Jon nicht wieder. Er zog auch keine Schlüsse aus dem irren Gefasel der alten Frau und der Krankenhauskleidung. Aber dieser Satz blieb haften, während er an den Straßenwachen vorbei zum Hafen schlich.
Nachdenklich holte er ein Stück Kreide aus seiner Tasche und schmierte über ein abblätterndes Kriegspropagandaplakat: DU BIST GEFANGEN IN …, als Jeof neben ihm auftauchte.
»Du also schreibst das Zeug überall an die Wände!«
»Nicht allein«, brummte Kino. »Was machst du hier, Jeof?«
»Mein Gebiet«, knurrte der Neoneandertaler. »Willst du mir vielleicht verbieten, daß ich mich hier umsehe?«
»Nein, Jeof, so meinte ich es doch nicht.«
»Dann verschwinde, Kino! Hau ab!« befahl Jeof.
»Ich geh’ schon.« Kino steckte die Kreide wieder ein. Dann hielt er inne. »Jeof, hast du schon jemals etwas Gutes in deinem – ich will sagen, hast du schon einmal etwas getan, auf das du stolz sein kannst?«
»Ich bin stolz«, erwiderte Jeof. Er öffnete beide Hände, ehe er sie in dem nebligen Licht zu Fäusten ballte. »Ich bin stolz!«
Kino wich zurück, aber er fragte. »Worauf bist du denn stolz?«
»Sieh bloß zu, daß du weiterkommst!«
»Gleich, Jeof, sofort. Aber wirklich, worauf bist du stolz?« Die Züge des Neoneandertalergesichts bewegten sich. »Niemand anderer ist stolz auf dich. Glaubst du, daß auch nur ein Fisch etwas von dir hält, nach dem, was du mit Noniks Frau gemacht hast? Du bildest dir ein, du bist groß? Nein, du bist ein ganz kleiner Affe. Und vielleicht bist du so klein, daß manche denken, du solltest gar nicht hier sein. Vielleicht überlegt irgendwo gerade eine Gang, wie sie dich in kleine Stücke zerreißen kann, wo sie das gleiche mit dir machen wird, was du Noniks Frau getan hast. Und vielleicht Fangen sie schon heute abend um zehn Uhr an, nach dir zu suchen. Und vielleicht kommen sie aus der Kneipe, wo sie gerade ihre Pläne machen, und räuchern dich in deinem Loch aus, damit du heraus mußt und sie dich wie Ungeziefer zertreten können, Affe.« Die ganzen letzten Sätze waren reine Phantasterei, aber nachdem Kino einmal zum Reden angefangen hatte, erwärmte er sich an seinen eigenen Worten, in denen er
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