Stadt des Schweigens
untersuchte die Todesumstände, führte die toxikologischen Tests durch, bestimmte Zeit und Art des Todes und stellte den Totenschein aus.
Avery hatte das alles von seiner Frau erfahren, als sie mit ihr telefoniert hatte, um einen Termin zu vereinbaren. Sie erfuhr auch, dass Dr. Harris schon seit achtundzwanzig Jahren im Dienst war. Sein Büro beschäftigte noch zwei stellvertretende Rechtsmediziner und führte bei etwa achtzig Todesfällen pro Jahr die Untersuchungen durch. Falls zur Ermittlung der Todesursache eine Autopsie nötig wurde, ließ er die Leichen ins Earl K. Long Hospital nach Baton Rouge bringen. Dort war eine forensische Pathologin für die Autopsien zuständig. Im Gegensatz zu großen Bezirken hatte West Feliciana nicht die Mittel, um einen eigenen forensischen Pathologen einzustellen, was Avery überraschte.
Dr. Harris war ein charmanter und humorvoller Mann mit schütterem, grauem Haar und einem neckischen Funkeln in den Augen. Nicht gerade das, was man sich unter einem Gerichtsmediziner vorstellte.
„Danke, dass Sie mich empfangen, Dr. Harris. Ich bin Ihnen sehr verbunden.“ Lächelnd nahm er ihre Worte entgegen, und sie fuhr fort: „Ihre Frau erzählte mir, dass Sie schon seit achtundzwanzig Jahren in dieser Funktion tätig sind.“
„Mit Unterbrechungen. Ich habe eine Auszeit genommen und mich um meine eigene Praxis gekümmert. Man kann nicht beides, wissen Sie. Jedenfalls sagt meine Frau das.“
„Aber Sie sind zurückgekommen.“
„Wenn man Perfektionist ist, hat man es nicht leicht. Ich kann nicht loslassen. Ich konnte nicht tatenlos zusehen, als die Arbeit nicht ordentlich gemacht wurde.“
Er beugte sich zu ihr vor, die Augen lustig blitzend. „Die hatten hier einen Witzbold, der jede Todesursache als Herzstillstand diagnostizierte. Er nahm weder medizinische Berichte zur Hand noch sah er sich die Umstände des Todes genauer an. Ich konnte das nicht ertragen und stimmte einer Rückkehr zu. Zweimal.“ Er lehnte sich zurück und beugte sich wieder vor. „Natürlich haben wir alle irgendwann einen Herzstillstand, aber das ist nicht immer die alleinige Todesursache.“
„Passiert so etwas häufiger?“ fragte sie und dachte an ihren Vater. „Ich meine, dass die Todesursache nicht richtig festgestellt wird, weil man Fakten übersieht?“
„Nicht, wenn ich die Untersuchung führe.“ Fragend sah er sie an und lächelte dabei freundlich. „Womit kann ich Ihnen helfen, Miss Chauvin?“
„Wie ich schon am Telefon erwähnte, möchte ich Genaueres über den Tod meines Vaters erfahren.“
Sein Mienenspiel verriet Mitgefühl. „Ich bedaure Ihren Verlust.“
„Danke.“ Sie zögerte und überlegte, wie sie das Gespräch in die richtigen Bahnen lenken sollte. „Ich habe von Ihrer Frau erfahren, dass Sie etwa achtzig Todesfälle im Jahr bearbeiten und dass Sie oder Ihre Stellvertreter immer zum Ort des Geschehens fahren.“
„Das ist richtig.“
„Sie sagte auch, dass weder Sie noch ihre Stellvertreter Autopsien durchführen, da diese in Baton Rouge gemacht würden.“ „Ja. Von der forensischen Pathologin Dr. Kim Sands.“ „Und bei meinem Vater haben Sie eine Autopsie angeordnet.“
„Das mache ich bei jedem Selbstmord. Ich habe den Bericht hier.“
„Und sie hat den Tod meines Vaters als Selbstmord eingestuft?“
Er nickte. „Ihre Feststellungen deckten sich mit meinen.“
Avery faltete die Hände im Schoß, um zu verbergen, wie sehr sie zitterten. „Was hat Dr. Sands als offizielle Todesursache angegeben?“
„Erstickungstod.“
„Erstickungstod?“ wiederholte sie verblüfft. „Das verstehe ich nicht.“
„Wie sollten Sie auch?“ erwiderte er freundlich. „Es ist eine wenig bekannte Tatsache, dass die meisten Brandopfer ersticken. Im Fall Ihres Vaters füllten sich die Atemwege bei den ersten Atemzügen mit giftigen Gasen und Brennstoffdämpfen. Der Tod kam schnell.“
Er ist einige Schritte zur Tür gekrochen. „Wollen Sie sagen, er starb sofort?“
„Der Tod tritt nie sofort ein. In der Gerichtsmedizin teilt man die Zeit bis zum Eintritt des Todes nach Sekunden bis Minuten, Minuten bis Stunden, Stunden bis Tagen und so weiter ein. Bei Ihrem Vater dürfte es sich um Sekunden bis Minuten gehandelt haben.“
Avery hatte Mühe, nicht an die erlittenen Schmerzen zu denken, und versuchte, sich auf die medizinisch-rechtlichen Fakten zu konzentrieren. „Fahren Sie fort. Ich will wirklich alles wissen“, sagte sie, als er zögerte.
„Das
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