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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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auszuholen.“
    „Einverstanden.“
    Die junge Frau legte die gefalteten Hände auf zwei eingeritzte Initialen in der Tischplatte. „Ich schreibe eine Arbeit mit dem Titel: Kriminalität und Bestrafung und die Zunahme der Selbstjustiz in den Kleinstädten Amerikas.“
    Sie machte eine Pause, und Avery fragte sich, ob sie die Zeit brauchte, um ihre Gedanken zu ordnen – oder um sich etwas auszudenken. Ihr Recht auf Argwohn hatte Avery sich durch jahrelange Berufserfahrung verdient, durch zahllose Interviews, in denen man durch Umgehung der Wahrheit versucht hatte, sie zu manipulieren. Menschen logen aus den unterschiedlichsten Gründen: weil es einfacher war, als die Wahrheit zu sagen, um sich vor Strafe zu schützen, den eigenen Ruf zu erhalten oder um zu verschleiern, wer man wirklich war.
    „Während meines Studiums verspürte ich ein wachsendes Interesse an psychologischen Vorgängen innerhalb von Gruppen und an gruppendynamischen Prozessen. Was motiviert einen durchschnittlichen, gesetzestreuen Bürger, plötzlich auf einen Kreuzzug zu gehen, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen und sich damit außerhalb der Gesetze zu bewegen?“
    Einen Moment senkte sie den Blick und sah Avery dann wieder ruhig an. „Solche Menschen haben einen starken Glauben an Gesetz und Ordnung. Es sind gewöhnlich Patrioten mit hohem moralischen Anspruch. Natürlich ist es eine Form von Extremismus. Und wie alle Extremisten stellen sie unsere Überzeugungen geradezu auf den Kopf.“
    Avery wurde allmählich neugierig. „Wie Timothy McVeigh, der Bomber von Oklahoma City.“
    „Genau. Er passte hundertprozentig in dieses Profil, obwohl er als Einzeltäter agierte. Was diese Menschen so gefährlich macht, ist ihr absoluter Glaube an ihre gute Sache, für die sie bereit sind zu sterben. Ihre Überzeugungen rechtfertigen ihre Taten nicht, aber aus ihrer Sicht heiligt der Zweck alle Mittel.“
    Avery nickte verständnisvoll. „Dann stecken Sie alle Extremisten in dieselbe Kategorie? Religiöse Gruppen wie die Taliban in Afghanistan genauso wie die Leute von El Kaida?“
    „Genauso wie weiße Rassisten, Heils- und Weltuntergangssekten und jede Gruppierung, die ihre Ideologie ins Extreme führt. Kein Land, keine Religion oder Rasse ist vor diesen Entgleisungen gefeit. Die Geschichte ist voll von Opfern, die im Namen einer Ideologie gestorben sind.“
    „Und warum sind Sie hier?“
    „Ein Barmann erzählte mir von einer kleinen, perfekten Bilderbuchstadt in Louisiana. Die Stadt litt unter einer wachsenden Kriminalitätsrate. Anstatt das Verbrechen mit den üblichen Polizeimitteln zu bekämpfen, nahmen die Bürger das Gesetz in die eigenen Hände. Sie organisierten Gruppen, die das Verhalten ihrer Mitbürger überwachten. Jedes als abweichend empfundene Verhalten wurde gemaßregelt und hatte Folgen für die Betroffenen. Die Kriminalitätsrate sank, was die Leute in ihrem Tun nur bestätigte. Ich habe ein bisschen nachgeforscht und fand Anhaltspunkte, die diese Geschichte belegen.“
    Sie redet von Cypress Springs. Gespannt sah Avery sie an und wartete auf die Pointe. Als keine kam, lachte sie auf. „Eine Art Bürgerwehr in Cypress Springs? Das kann nicht Ihr Ernst sein.“
    „Solche Gruppen bilden sich vornehmlich in Orten wie Cypress Springs. In kleinen, isoliert liegenden Gemeinden, die sich dem Wandel der Zeit entziehen und nur ungern Fremde aufnehmen.“
    „Das ist lächerlich.“
    Avery wollte aufstehen, doch die Frau ergriff ihre Hand und hielt sie fest. „Lassen Sie mich zu Ende erzählen. Die Gruppe bildete sich in den späten achtziger Jahren als Reaktion auf den raschen Anstieg der Kriminalität. Einige Zeit später löste sie sich wieder auf. Es gab interne Streitigkeiten und die Drohung aus den eigenen Reihen, die Sache publik zu machen.“
    In den späten Achtzigern? In der Zeit vor und nach Sallie Waguespacks Ermordung.
    Sie hatte das Gefühl, als sträubten sich ihr die Haare. Wenn sie nicht gerade durch die Artikelsammlung ihres Vaters und Buddys Erzählung an diese Zeit erinnert worden wäre, hätte sie die Geschichte der Frau als völligen Humbug abgetan. Als rechtschaffene Reporterin hatte sie jedoch eines gelernt: Wenn ein Element einer Geschichte glaubhaft klang, waren es die anderen oft auch.
    Aber Selbstjustiz? Waren die Leute hier so besorgt, ja verzweifelt gewesen, dass sie zu solchen Maßnahmen greifen mussten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater, Buddy, deren Freunde oder andere Stützen

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