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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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der Gemeinde sich aus Verzweiflung als Großer Bruder betätigt hatten.
    „Die Kerngruppe war klein. Aber sie hatten ein Netz von Zuträgern, die ihre Mitbürger bespitzelten und die Gruppe informierten.“
    Avery zog die Stirn kraus. „Spitzel? Wollen Sie behaupten, die Bürger von Cypress Springs haben sich gegenseitig bespitzelt?“
    „Ja. Die Mitbürger wurden beobachtet. Man las ihre Post und notierte, was sie aßen, tranken und lasen, vermerkte, wohin sie gingen und ob sie den Gottesdienst besuchten. Tanzte jemand aus der Reihe, wurde er verwarnt.“
    „Verwarnt? Sie meinen bedroht?“
    Sie nickte. „Blieb die Warnung ohne Wirkung, wurde die Gruppe aktiv. Geschäfte wurden boykottiert, Menschen ausgegrenzt, Besitz verwüstet. In Abstufungen hatte jeder damit zu tun.“
    „Jeder?“ Avery schnaubte ungläubig. „Dass kann nicht sein.“
    „In solchen Gruppen wird die Verantwortung auf alle verteilt. Das bedeutet, dass niemand persönlich die Verantwortung für etwas trägt, das sich gegen einen Dritten richtet. Indem man dem Einzelnen die alleinige Schuld nimmt, ist die Last der Taten leichter zu tragen. Die individuelle Verantwortung wird auf die Gruppe und ihre Ideologie umgelegt.“
    Avery blieb skeptisch. „Ich bin hier aufgewachsen. Von so etwas habe ich noch nie gehört.“
    „Das ist nicht so fremdartig, wie es klingt. Es begann als eine Art Nachbarschaftswache und sollte die Kriminalität eindämmen“, fuhr die Frau fort, „und dann lief die Sache aus dem Ruder. Jeder, dessen Verhalten nicht mit dem übereinstimmte, was man als richtig, moralisch und nachbarschaftlich ansah, wurde aufs Korn genommen. Bevor das alles ein Ende nahm, hatten sie die Rechte der Bürger im Namen von Recht und Gesetz bereits außer Kraft gesetzt.“
    „Und niemand kam ins Gefängnis?“
    „Niemand hat geredet. Die Gemeinde übte sich in Schulterschluss. Das ist nicht untypisch in solchen Fällen.“ Gwen beugte sich zu Avery vor und senkte die Stimme. „Die Gruppe nannte sich ,Die Sieben’.“
    Die Männergruppe bei der Totenwache meines Vaters. Die Leute, die Gwen beobachtet haben.
    Das waren sieben gewesen.
    Ein Zufall, redete sie sich ein und hatte Mühe, ihre Beunruhigung zu verbergen. „Und was bitte hat all das mit meinem Vater zu tun und dem Umstand, dass Sie sich als meine Schwester ausgeben?“
    Gwen Lancaster hatte den Blick ruhig auf sie gerichtet. „Ich versuche Quellen zu finden, die meine bisherigen Informationen bestätigen. Ihr Vater passt ins Profil.“
    „Mein Dad ist tot, Miss Lancaster.“
    „Ich meinte das Profil eines Gruppenmitglieds“, erklärte sie errötend. „Weiß, männlich, lebenslanger Bewohner der Stadt, ein respektiertes Mitglied der Gemeinde.“
    Avery sah sie empört an. „Soll das heißen, mein Vater war Mitglied dieser Sieben?“
    „Ja.“
    Avery stand auf und merkte, dass sie zitterte. „War er nicht! Er hätte sich nie an so etwas beteiligt. Niemals!“
    „Warten Sie bitte!“ Gwen stand ebenfalls auf. „Hören Sie mich bis zum Ende an. Da gibt es …“
    „Ich habe genug gehört.“ Avery nahm ihre Tasche von der Picknickbank. „Es ist ein Unterschied, ob man sich für ehrenwert hält oder ehrenwert ist. Und das wissen Sie, Miss Lancaster. Mein Vater war ein prinzipientreuer, hochanständiger Mann. Einer, zu dem die Menschen aufschauten, der sein Leben der Hilfe anderer gewidmet hatte. Er fühlte sich nicht der Selbstgerechtigkeit verpflichtet, sondern dem Dienst am Nächsten. Sie beschmutzen das Andenken an ihn und seine Arbeit, wenn Sie unterstellen, dass er bei diesem Extremistenmüll mitgemacht hat.“
    „Sie verstehen nicht. Wenn Sie doch nur …“
    „Ich verstehe sehr wohl, Miss Lancaster, und ich habe genug gehört.“ Avery wich zurück. „Halten Sie sich fern von mir. Sollte ich herausfinden, dass Sie im Leben oder der Arbeit meines Vaters herumschnüffeln, gehe ich zur Polizei. Und sollte ich erfahren, dass Sie diese Lügen verbreiten, hören Sie von meinem Anwalt!“
    Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Avery sich um und ging.

19. KAPITEL
    Avery saß am Küchentisch, den aufgeklappten Laptop vor sich, die Hände um einen Becher mit frischem Kaffee gelegt. Frühe Morgensonne fiel durch das Fenster. Averys Blick fiel auf den Monitor, doch der Text verschwamm ihr vor den Augen.
    Sie stellte den Becher ab und rieb sich die Augen. Ihr Kopf schmerzte, da sie zu wenig geschlafen hatte. Von St. Francisville war sie gleich heimgefahren, und ihre

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