Stadt des Schweigens
Gedanken hatten sich immer nur um das eine gedreht. Sie war zornig, ja wütend gewesen, dass Gwen Lancaster ihren Vater solch verabscheuungswürdiger Taten an seinen Mitbürgern bezichtigte. Wie konnte sie nur unterstellen, die Bürger von Cypress Springs seien solcher Spitzeldienste fähig und bestraften jeden, dessen Verhalten nicht dem entsprach, was einige wenige für akzeptabel hielten?
Cypress Springs war ein schöner Wohnort. Die Menschen sorgten füreinander und kümmerten sich umeinander. Man half sich.
Gwen Lancaster war entweder eine Lügnerin oder ein akademischer Schreiberling. Sie kannte Journalisten des gleichen Schlages. Sie hingen eine Story an einer Geschichte auf, die ihnen jemand erzählt hatte – möglichst saftig, empörend und schockierend, wie das, was Gwen von einem Barmann über eine Kleinstadt gehört hatte, die Selbstjustiz übte.
Großartiger Aufhänger. Man unterstellte einfach, die Geschichte sei wahr, und suchte sich die passenden Fakten zusammen, um sie zu untermauern. Das war Schmierfinkenjournalismus, getarnt als sauber recherchierter Journalismus. Oder in Gwens Fall als wissenschaftliche Arbeit.
Sieben Männer bei der Totenwache, die Gwen beobachteten. Einer hatte gelacht.
Zufall. Eine Gruppe von Männern, die zufällig beisammen standen. Freunde vielleicht, die eine attraktive Frau bewunderten. Einer machte eine sexuelle Anspielung und lachte. So etwas passierte dauernd.
Da sie wenig über Selbstjustiz und Extremismus wusste, hatte sie über Nacht im Internet nachgeforscht.
Zunächst über Gruppenmentalität, Sozialpsychologie, Fanatismus. Sie hatte über den Ku-Klux-Klan gelesen, über Nazismus und über Experimente mit Gruppen und deren Verhalten.
Seit dem Anschlag vom 11. September wurde viel von Extremisten berichtet. Sie hatte alles Verfügbare dazu gelesen, auch zu den Anschlägen von Timothy McVeigh in Oklahoma City 1995. Zudem alle Berichte über die Schießerei, die das FBI 1993 mit den Davidianern in Waco hatte.
Was sie gefunden hatte, trug nicht zu ihrer Beruhigung bei. Offenbar konnte jede Idee ins Extreme getrieben werden. Das Blut, das für Gott und Vaterland vergossen wurde, könnte Seen füllen. Ein Hauptmotiv war nach ihren Recherchen Angst vor Veränderung, der heftige Wunsch, die Welt und die Ordnung der Dinge zu belassen, wie sie waren.
Die Leute hatten Angst und waren zornig, weil sich ihre Stadt in einen Ort verwandelte, den sie nicht mochten.
Die Leute nahmen ihre Lebensqualität nicht mehr als selbstverständlich hin. Sie erkannten, dass Sicherheit und Gemeinsinn erarbeitet werden müssen. Man kümmerte sich wieder mehr umeinander.
Avery ging zum Spülbecken, drehte das kalte Wasser auf und bespritzte sich das Gesicht. Hatten die Leute wirklich so viel Angst gehabt, dass sie glaubten, das Gesetz in die eigenen Hände nehmen zu müssen? Hatte ihr Vater deshalb so lange diese Zeitungsausschnitte aufbewahrt?
Sie riss ein Papiertuch ab, trocknete sich das Gesicht und warf das Tuch in den Abfall. So sehr sie sich auch wünschte, Gwen Lancasters Geschichte als Humbug abzutun, sie konnte es nicht, wegen dieses Kartons voller Zeitungsartikel.
Gwen Lancaster wusste etwas über ihren Vater, das sie nicht preisgab. Warum sonst hatte sie sich mit dem Gerichtsmediziner verabredet, um mit ihm über seine Erkenntnisse zu Philips Tod zu sprechen? Ein Licht auf die Gruppierung der Sieben oder deren Verbindung zu ihrem Vater konnte er nicht werfen.
Das ist es! dachte sie. Gwen Lancaster bezweifelt die offizielle Todesursache. Sie musste herausfinden, warum. Aber dazu müsste sie erst einmal diese Gwen wieder finden.
Avery ging zum Telefon und wählte die Nummer der Ranch. Buddy kannte jeden in der Stadt, auch Fremde. Er nahm den Hörer ab.
„Hallo, Buddy, hier ist Avery. Guten Morgen.“
„Kleines Mädchen, auch dir einen guten Morgen.“ Seine tiefe Stimme verströmte Freude. „Wie geht es dir? Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, wollten aber nicht aufdringlich sein.“
„Ich halte mich, Buddy. Danke für eure Anteilnahme. Wie geht es Lilah?“
„Gut. Komm zum Dinner vorbei. Jederzeit.“
„Mache ich. Ich habe eine Frage. Du kennst doch jeden hier.
Richtig?”
„So ziemlich. Das ist wohl mein Job.“
„Ich versuche, eine Frau namens Gwen Lancaster zu finden. Sie ist erst ein paar Wochen hier.“
„Hübsch, blond? Schreibt irgendeine Arbeit?“ „Das ist sie.“
„Dann sieh im Gästehaus nach. Warum suchst du sie?“ Avery zögerte.
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