Stadt des Schweigens
die Menschen ihren Geschäften nachgingen, als gäbe es ihn nicht.
Gwen hielt den Atem an und stieß ihn langsam wieder aus. Noch einmal atmete sie tief durch, um sich zu beruhigen. Sie war allein, ohne Verbündete, mit denen sie ihre Ängste teilen konnte. Avery Chauvin war ihre letzte Hoffnung gewesen, doch die war nun auch dahin.
Noch eine Tote. Trudy Pruitt.
Man hatte ihr die Zunge herausgeschnitten.
Sie hatte das heute Morgen voller Entsetzen während des Frühstücks im Azalea Cafe gehört.
Die Frau war nur wenige Stunden nach ihrem Treffen umgebracht worden. Nachdem sie ihr die frühere und gegenwärtige Existenz der Sieben und alle anderen Verdächtigungen bestätigt hatte. Es hatte eine Gruppe von Bürgern gegeben, die sich im Geheimen traf und Urteile über andere fällte. Die Mitglieder gaben eine Warnung an die Betreffenden aus und wurde die nicht befolgt, schritten sie zur Tat. Die Gruppe hatte sich nie wirklich aufgelöst, sondern war nur abgetaucht. In den letzten Monaten war sie wieder aktiver geworden und, wie es schien, auch gefährlicher.
Schuldgefühle bedrückten sie, weil sie fürchtete, für den letzten Mord mitverantwortlich zu sein. Wäre sie nicht hergekommen und hätte sie Trudy Pruitt nicht befragt, wäre die Frau vielleicht noch am Leben.
Hau ab, Gwen! Fahr, so schnell du kannst!
Sie streckte die Finger am Lenkrad. Was erreichte sie schon, außer dass sie ihr Leben und das von anderen gefährdete? Ihrem Bruder konnte sie nicht mehr helfen. Und jeder, der vielleicht bereit gewesen wäre, mit ihr zu reden, hatte nach Trudys Ermordung garantiert Angst.
Doch wenn sie jetzt davonlief, würde sie nie erfahren, was mit Tom geschehen war. Und ehe sie das nicht geklärt hatte, könnte sie zu keinem normalen Leben zurückfinden.
Sie konzentrierte sich auf das bevorstehende Treffen. Der Anruf der Frau war heute Nachmittag gekommen. Sie hatte sich nicht zu erkennen gegeben, aber ihre Stimme hatte belegt und brüchig geklungen, als hätte sie geweint.
Oder sie wollte ihre Identität verbergen. Vergeblich hatte sie versucht, der Frau mehr zu entlocken als die Ankündigung von Informationen.
Vielleicht war dieses Treffen eine Ablenkung.
Oder ein Hinterhalt.
Gwen straffte die Schultern. Kampflos würde sie sich nicht geschlagen geben. Sie blickte zu der Windjacke auf dem Nebensitz. In der rechten Tasche steckte ein 38er Smith & Wesson Revolver. Bolzenlos mit einem 2 Inch Lauf. Der Verkäufer hatte ihn ,die Waffe der Wahl für eine Lady’ genannt und ihr versichert, sie sei eine wirkungsvolle Verteidigung, besonders, wenn sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite habe.
Aber sie hatte weitere Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Das Sheriff Department, ihr Familienanwalt und ihre Mutter hatten E-Mails von ihr erhalten. In jeder standen ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse, was sie heute vorhatte und warum. Wenn ein Bruder und seine Schwester innerhalb weniger Wochen in derselben kleinen Gemeinde verschwanden, blieb das sicher nicht unbeachtet.
Selbst wenn man sie umbrächte, hätte sie die Ermittler auf eine Spur gesetzt.
Der Treffpunkt Highway 421 und No Name Road tauchte vor ihr auf. Die Frau hatte sie angewiesen, in die No Name Road einzubiegen und nach einer Viertelmeile in einen unbenannten Feldweg. Sie würde ihn an einem verrosteten Traktorgestell auf der Ecke erkennen. Dort sollte sie nach rechts abbiegen und eine weitere Viertelmeile zu einer Jagdhütte fahren.
Gwen bog auf die No Name Road ein. Der Lichtkegel ihrer Scheinwerfer glitt über die Straße, die zu beiden Seiten dicht bewaldet war, und fiel auf Zypressen, Pinien und Eichen.
Ein kleines Tier sprang vor ihren Wagen. Sie trat auf die Bremse, sodass die Reifen quietschten und der Sicherheitsgurt sich spannte, damit sie nicht gegen das Lenkrad prallte. Das Tier, ein Waschbär, wie sie jetzt erkannte, schaffte es auf die andere Straßenseite und verschwand im Unterholz.
Erschrocken fuhr sie langsam weiter, und die Dunkelheit schien sie zu verschlucken. Sie strengte die Augen an, um über den Lichtkegel hinaus etwas zu erkennen. Die Frau hatte sie gewarnt, nicht zu spät zu kommen. Es war schon fast elf.
Die Zufahrt kam in Sicht, sie bog ein und Kies knirschte unter ihren Reifen.
Vor ihr im Licht ihrer Scheinwerfer lag die Jagdhütte. Eine kanadische Blockhütte mit tief herabgezogenem Dach und überdachter Frontveranda, rustikal und scheinbar ein Teil der Landschaft, als hätte sie schon immer hier gestanden. Offenbar
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