Stadt, Land, Kuss
erwischte ich sie manchmal dabei, wie sie schluchzend auf dem Bett lag, das sie miteinander geteilt hatten, und in Kings Fell weinte. Ich schlich leise von ihrer Zimmertür weg, denn ich wusste, wenn sie mich bemerkte, würde sie mich anschreien und ihren Wecker oder ihre Haarbürste nach mir werfen – was immer ihr gerade in die Finger kam.
Ich glaube, King half uns allen dabei, mit unserem Kummer fertig zu werden. Er verurteilte niemanden. Er verbreitete keine Plattitüden. Er war einfach da, und das war für mich, meine Mutter und meinen Bruder der größte Trost.
»Sie müssen doch noch Kontakt zu Ihrem Vater haben«, sagt Alex.
»Das hätte ich sicher, wenn ich wüsste, wo er ist.« Ich beginne, die Wunde zu nähen, und weiche dadurch Alex’ mitfühlendem Blick aus. »Nein, ehrlich gesagt, das hätte ich nicht. Es ist zu spät. Ich habe lange versucht, ihn aufzuspüren, aber es hat nie etwas gebracht.« Ich weiß nicht, was ich fühlen würde, wenn er jetzt plötzlich vor mir stände. Wut? Erleichterung darüber, dass ich nicht länger nach ihm Ausschau zu halten brauche, denn genau das ist es, was ich tue. Eines weiß ich jedoch sicher: Ich werde ihm niemals verzeihen können.
»Was hat er gemacht? Beruflich, meine ich.«
»Nichts.« Ich lächle bei der Erinnerung an meinen Vater, wie er auf dem Sofa lag, in der einen Hand eine Bierdose, in der anderen einen Fetzen Papier, und uns ein paar holprige Verse vorlas, die er auf dem Heimweg vom Pub verfasst hatte. »Er war Dichter, Straßenpoet – eher McGonagall als Keats. Und bevor Sie fragen, ich habe weder seine Wortgewalt noch seine Arbeitsmoral geerbt.«
»Was hielt er davon, dass Sie Tierärztin werden wollten? «
»Er war dagegen, vor allem, als ihm klar wurde, dass ich dazu studieren müsste. ›Maz‹, sagte er immer, ›was ist so falsch an der Schule des Lebens?‹« Kummer und Schmerz ballen sich in meiner Kehle zusammen. Trotz allem liebte ich meinen Vater. Ich liebte ihn, und ich hasste ihn dafür, dass er uns verlassen hatte.
Ich reiße mich zusammen und konzentriere mich wieder auf den Kater, und nachdem ich fertig bin, zieht sich eine Linie aus sauberen Stichen über den Stumpf, und ein winziger Blutfaden trocknet auf der rasierten grauen Haut.
»Lassen Sie das Gas noch an, Alex. Wenn ich seinen Kiefer verdrahtet habe, will ich ihn noch kastrieren, dadurch ersparen wir ihm eine zweite Narkose.«
»Ich hoffe, Sie haben nicht vor, auch noch alles andere abzuschneiden«, scherzt Alex. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, trete ich ein bisschen zurück, falls Ihnen das Skalpell ausrutscht.«
»Sie wollen doch nicht etwa meine chirurgischen Fähigkeiten anzweifeln?«, entgegne ich, wieder ein wenig fröhlicher.
»Das würde ich nie wagen.« Er lächelt, als ich das Messer in seine Richtung schwinge.
»Wo haben Sie denn letztendlich studiert?«, frage ich ihn.
»In Bristol«, antwortet er, und wir plaudern weiter, bis die Operation abgeschlossen ist.
Kurz nachdem Alex das Narkosegas abgeschaltet hat, hustet der Kater leise und schluckt. Alex zieht den Luftröhrentubus heraus und entwirrt den Tropfschlauch, der sich verdreht hat.
»Wie sollen wir ihn nennen? Er braucht doch einen Namen«, frage ich, während ich die Handschuhe ausziehe.
Alex denkt einen Moment nach. »Wie wäre es mit Tripod? Das passt, und Sie kommen sich nicht so albern vor, wenn Sie seinen Namen durch den Garten brüllen.«
»Tripod, das ist es.« Ich streichle den Kopf des Katers, und er reagiert mit einem verspielten Schnurren. »Ich bleibe noch ein bisschen hier bei ihm. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Gern. Schwarz, vier Stück Zucker, bitte.«
»Vier?«, frage ich, während Alex Tripod auf den Arm nimmt. »Sind Sie noch nicht süß genug?«
»Was würden Sie denn sagen?«, antwortet er grinsend, und mein Gesicht beginnt vor Verlegenheit zu brennen, weil ich so direkt gewesen bin. »Wo soll er denn hin?«, fragt Alex und klemmt sich den Infusionsbeutel zwischen die Zähne.
»Da hinten.« Ich deute durch die Tür auf die Station, wo ich schon eine beheizbare Unterlage in einen Käfig gelegt habe, und verschwinde, um den Kaffee zu machen. Während wir ihn trinken, behalten wir schläfrig den dösenden Tripod im Auge.
Er erinnert mich an King. Erst arbeitete ich nur samstags in der Arche, später ging ich jeden Tag nach der Schule hin. Es war Jack, der mich ermutigte, mich um einen Studienplatz zu bewerben, und er war es auch, der King aufnahm, als ich zum
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