Stadt, Land, Mord - Granger, A: Stadt, Land, Mord - Mud, Muck and Dead Things
der Art. Sie ist nach England gekommen, um ihr Englisch zu verbessern. Aber das erzählen sie alle. In Wahrheit kommen sie, weil sie hier mehr Geld verdienen können als zu Hause.«
»Bezahlen Sie die Mädchen gut?«
»Wir zahlen den Standardlohn. Allerdings dürfen Sie nicht vergessen, dass ein in unseren Augen bescheidener Lohn für sie eine ganze Menge Geld ist. Sie kommen aus einer anderen Volkswirtschaft.«
Die Engländer geben für alles Mögliche viel Geld aus …
»Könnte ich ihr Zimmer sehen?«, fragte Jess unvermittelt.
Westcott wirkte erleichtert, dass sie ihr Interesse von ihm wegverlagert hatte. »Selbstverständlich. Milada hat ihre Sachen auch dort oben. Die beiden haben sich das Zimmer geteilt.«
»Ich frage Milada, ob es ihr etwas ausmacht«, sagte Jess, indem sie sich rasch erhob und vor ihm her die Bar durchquerte, sodass er keine Gelegenheit hatte, vorher mit Milada zu reden.
Milada hatte die Zeit genutzt, um sich umzuziehen. Sie trug jetzt eine blaue Hose und ein blaues T-Shirt, auf dem in großen Lettern der Name des Lokals prangte.
»Ich bringe Sie rauf!«, sagte sie sofort und verließ ihren Posten hinter dem Tresen, um eine schmale Treppe im hinteren Teil des Raums hinaufzusteigen.
»Heh!«, rief Westcott ihr hinterher. »Was ist mit deiner Kundschaft?«
»Ich bin gleich wieder da! Sie können die Bar sicher für drei Minuten alleine halten«, rief Milada ohne jeden erkennbaren Respekt für ihren Chef zurück.
War Eva auch so burschikos mit ihm umgesprungen?
Das Zimmer war genau so, wie Milada es beschrieben hatte, ein ausgebauter Dachboden, der sich über die gesamte Länge dieses Gebäudeflügels erstreckte. Die Decke war niedrig und holzverkleidet. Der Laminatboden im Kiefernholzdesign war erst vor kurzem verlegt worden und sah noch neu aus. Der Raum war großzügig. Die beiden Betten standen nicht nah beieinander, und unter den Traufen hatten zwei Schränke Platz.
»Das hier ist meiner«, sagte Milada und deutete auf einen davon. »Und der dort gehört Eva. Sehen Sie?« Sie riss schwungvoll die Türen auf. »Alle Kleider noch da. All ihre Sachen.«
Sie rannte zu einem der Betten und nahm eine kleine gerahmte Photographie vom Nachttisch. »Sehen Sie! Ihre Eltern. Sie hat das Bild von ihren Eltern stehen lassen.« Sie riss die kleine Schublade auf. »Und hier … Ohrringe, Halskette …« Milada nahm die Gegenstände aus der Schublade und hielt sie Jess hin, während sie redete. »Sie hat sogar ihre Pille dagelassen.«
»Ihre Pille?« Rasch trat Jess vor und nahm das kleine Päckchen.
Antibabypillen. Eva hatte entweder einen Freund gehabt, oder freizügige sexuelle Begegnungen. Jess bevorzugte die erste Möglichkeit. Die Antibabypille musste regelmäßig eingenommen werden. Sie war nicht einfach einer Laune folgend weggerannt, wie Westcott die Polizei glauben machen wollte. Sie hätte zumindest diese Pillen mitgenommen, genau wie ihren Schmuck und wahrscheinlich auch ihr Familienphoto. Jess nahm es zur Hand und betrachtete es. Sie fühlte sich an ihr eigenes Familienphoto erinnert, das sie erst vor so kurzer Zeit daheim in ihrer Wohnung betrachtet hatte. Mit einem Schlag war das verschwundene Mädchen real, nicht mehr nur ein Name. Und wenn es die Tote von der Cricket Farm war, dann würde dieses Ehepaar auf dem Photo, würden diese freundlich dreinblickenden, stolzen Eltern, vor den Scherben ihres Lebens stehen.
»Ich sehe mich noch ein wenig um, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie gehen besser wieder runter in die Bar«, sagte sie zu Milada. »Ich glaube, Mr. Westcott ist ein wenig verärgert.«
»Keine Sorge, das kriege ich hin«, erwiderte Milada ernst. Trotzdem verließ sie das Zimmer, und Jess hörte, wie sie laut die nackte Holztreppe hinunterrannte.
Jess blickte sich um und ging zu einer Tür auf der anderen Seite. Sie führte in ein kleines Duschbad mit Toilette und Waschbecken. Auf einem Regal stand ein Durcheinander von Make-up und Kosmetika: mehrere kleine Fläschchen Nagellack in verschiedenen Rosa-Tönen, Shampoo, Haarspray und Velcro-Lockenwickler. All das, was man zu finden erwartete: ein Schnappschuss aus dem Leben eines Teenagers. Sie fragte sich, wie viel von alledem Eva gehörte. Auf der Ablage über dem Waschbecken standen zwei Gläser mit Zahnbürsten darin. Jess nahm die Gläser mit einem Taschentuch hoch und hielt sie ins Licht. Die blaue Zahnbürste glänzte feucht. Sie war erst kürzlich benutzt worden und gehörte offensichtlich Milada. Die
Weitere Kostenlose Bücher