Stadtfeind Nr.1
unwillkürlich das Letzte, was Lucy zu mir sagte, bevor wir ins Bett gingen. »Fick mich«, sage ich langsam und kopfschüttelnd zu dem Gesicht im Spiegel. Das Gesicht sieht nur traurig stirnrunzelnd zu mir zurück, enttäuscht, dass mir nichts Besseres einfällt.
Lucy ist vor Tagesanbruch auf. Ich höre sie verstohlen rascheln, als sie sich leise durchs Zimmer bewegt und ihre verstreuten Kleidungsstücke einsammelt. Sobald sie angezogen ist, kommt sie ans Bett, kniet sich neben mich und fährt mir sanft mit den Fingern durchs Haar. Ich würde gern den Ausdruck ihres Gesichts sehen, aber ich halte die Augen geschlossen und stelle mich schlafend. Schließlich beugt sie sich vor und drückt die Lippen sanft auf meine Schläfe. Sie sind jetzt trocken, als hätte ich alles Leben aus ihnen gesaugt. Sie lässt sie einen Augenblick dort ruhen, bevor sie aufsteht und auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schleicht. Ich schlage die Augen erst auf, als ich höre, wie das Motorengeräusch ihres Wagens in der Ferne leiser wird.
27
Eine kurze Lektion in poetischer Gerechtigkeit: Als ich das erste Mal Sex mit Carly hatte, dachte ich an Lucy, und jetzt, siebzehn Jahre später, habe ich endlich mit Lucy geschlafen und kann nicht aufhören, an Carly zu denken, und das trotz Lucys Duft, der noch immer in meinen Nasenlöchern schwebt, trotz ihres Geschmacks, der noch immer auf meinen geschwollenen, aufgeplatzten Lippen liegt, trotz ihrer Nacktheit, die noch immer über meine Augenlider tätowiert ist und jedes Mal, wenn ich blinzele, neonfarben aufleuchtet. Ich bin der Star meiner eigenen shakespearischen Farce, dem es nie gelang, mit einer Frau zu schlafen, oh ne die andere zu begehren. Die Götter des Sex und der Ironie spielen Hockey, und ich bin ihr ahnungsloser Puck.
Zum ersten Mal seit fast drei Tagen verlasse ich das Haus, und das Sonnenlicht quält meine verengten Pupillen, während ich den Mercedes in die Stadt lenke. Ich versuche in Gedanken einen Ausweg aus dieser verblüffenden Wolke des Elends zu finden, die mich nach dem Sex mit Lucy offenbar eingehüllt hat, aber der ganze magisch schmutzige Abend verweigert sich einer Perspektive. Ich halte vor Waynes Haus, aber seine Mutter sagt mir, dass er noch schläft. Irgendetwas an ihrer Art, an der allzu schnellen Erklärung dieser Tatsache, regt in mir den Verdacht, dass sie lügt, aber sie scheint noch gereizter und kampfeslustiger als normalerweise, also sage ich ihr, anstatt sie erst richtig in Fahrt zu bringen, lieber, dass ich später noch einmal vorbeischauen werde.
Als ich wieder in meinem Wagen sitze, schnappe ich mir mein Handy und rufe Owen an.
»Herzlichen Glückwunsch dazu, dass du mit deiner Mutter geschlafen hast«, brüllt er mir fast hämisch entgegen, was mich die Klugheit meiner Entscheidung überdenken lässt, ihn so früh am Morgen zu Hause anzurufen.
»Was?«
»Oh, ich bitte dich, Joe. Deine Schwäche für Lucy ist doch eine direkte Manifestation deiner Sehnsucht nach der Liebe deiner eigenen Mutter.«
»Warum kann es nicht einfach gesunde Lust sein?«
»So einfach ist es nicht, in Anbetracht der Komplexität deiner Umstände.«
»Ich glaube nicht, dass du das sagen würdest, wenn du Lucy je gesehen hättest«, sage ich.
»Na ja, erzähl dir das weiterhin, wenn du willst«, erwidert er süffisant.
»Was ist denn aus der Theorie geworden, dass man keine vorschnellen Diagnosen stellen sollte?«
»Oh, ich bitte dich, Joe. Diese Sache liegt doch völlig auf der Hand.«
Ich seufze. »Ehrlich gesagt, beginne ich allmählich, dieses ganze Agent-als-Therapeut-Arrangement zu überdenken.«
»Hier geht es um etwas Tiefgründigeres«, sagt Owen.
»Tiefgründiger, als die eigene Mutter zu vögeln?«
Er lacht. »Bist du schon einmal auf die Idee gekommen, dass du, die ödipalen Aspekte einmal außer Acht gelassen, versuchst, gewissermaßen deine Vergangenheit zu vögeln?«
»Wie bitte?«
»Mir scheint, dass du unbewusst versuchst, Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Sowohl deine lächerliche anhaltende Telefonbeziehung zu Natalie als auch die Tatsache, dass du mit Lucy geschlafen hast, sind Teile deines zwanghaften Bedürfnisses, Fehler der Vergangenheit wieder gutzumachen. Du fühlst dich für Sammys Tod verantwortlich und glaubst daher auch, dass du Lucy Unrecht getan hast.«
»Vielleicht fühle ich mich tatsächlich in gewisser Weise für das verantwortlich, was mit Sammy passiert ist«, sage ich. »Aber inwiefern wird das dadurch ausgelöscht,
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