Stadtfeind Nr.1
den Raum, als sich das Personal meiner Gegenwart bewusst wird und meinen Gang zu Carlys Büro mit offenkundigem Interesse verfolgt.
»Das geht so nicht«, sagt Carly, als ich das Zimmer betrete. Sie sitzt im Schneidersitz mitten auf einem abgenutzten Eichenschreibtisch und grübelt über einem Layout-Andruck, während ihr das Haar wie ein Vorhang ums Gesicht fällt.
»Du hast meinen Spruch doch noch gar nicht gehört«, sage ich, und sie reißt den Kopf hoch, die Augen hinter der goldumrandeten Brille - von der ich gar nichts wusste vor Verblüffung geweitet.
»Joe«, sagt sie, und der Andruck fällt aus ihren Händen auf den Schreibtisch. »Was machst du denn hier?«
»Was geht so nicht?«, sagt eine körperlose Stimme hinter Carly.
»Das Layout auf Seite sechs«, wendet sich Carly an das Speakerfone, während sie mich immer noch anstarrt. »Ich will den Artikel nicht wegen zwei lausiger Sätze auseinander schneiden.«
»Dann soll die Redaktion fünfzehn Wörter streichen«, kommt die Antwort.
»Hast du mit ihnen gesprochen?« »Sie haben mir gesagt, ich soll mich verpissen.« Carly sieht mich an und grinst entschuldigend. »Ich rufe dich in einer Minute zurück«, sagt sie. »Wer ist Joe?«, will die Stimme wissen. »Bis gleich, Calvin«, sagt Carly und drückt auf eine Taste auf dem Telefon. »Entschuldige«, sagt sie zu mir und nimmt verlegen die Brille ab. »Was machst du nun wirklich hier?«
Sie trägt eine rostfarbene Stretchbluse, die in eine dunkle Faltenhose gesteckt ist, und auf dem massiven Schreibtisch sieht sie niedlich und kompakt aus. Ihr Gesicht, ohne jedes Make-up, sieht feiner geschnitten aus, als ich es in Erinnerung habe, fast schon hager, und ich bin immer noch dabei, mich an ihr überraschend langes kastanienbraunes Haar zu gewöhnen: glatt, dicht und trotzig ungestylt. »Ich dachte, ich könnte dich zum Lunch einladen«, sage ich betont beiläufig.
»Es ist zehn Uhr vormittags.«
»Dann sind wir vor dem Ansturm da.«
Sie betrachtet mich einen Augenblick lang nachdenklich. »Und worüber werden wir reden?«
Carlys entwaffnende Direktheit, angetrieben von einer Unterströmung schneidenden Humors, war eine der Eigenschaften, die ich damals, als wir Teenager waren, immer an ihr bewunderte. Aber jetzt ein Gespräch mit ihr in Gang zu bringen ist, als würde ich in einer Jazzcombo spielen, und ich bin aus der Übung und mein Timing ist schlecht. »Ich weiß nicht«, sage ich. »Wir hatten eigentlich noch gar nicht die Gelegenheit, uns alles zu erzählen.«
»Das ist doch wohl auch sinnlos, oder?«, sagt sie, rollt sich anmutig von ihrem Schreibtisch und landet auf dem abgewetzten Ledersessel dahinter. Das Licht ihrer Schreibtischlampe schimmert auf dem warmen Braun, das seitlich über ihren Nacken fällt und hinter den Ohren in ihrer Kopfhaut verschwindet.
»Warum sagst du das?«
Carly verdreht die Augen. »Ich meine, was werden wir uns denn wirklich sagen? Du wirst mir erzählen, wie es ist, ein gefeierter Autor zu sein, und ich werde dir erzählen, wie es ist, eine Kleinstadtzeitung zu leiten, und dann wird es noch ein paar betretene Augenblicke des Schweigens geben, die keiner von uns aushalten können wird, also werden wir irgendetwas sagen, um sie auszufüllen, bis einer von uns zwangsläufig die Vergangenheit zur Sprache bringen wird, vermutlich du, und du wirst dich dafür entschuldigen, dass du in New York ein solches Arschloch warst, und ich werde sagen, vergiss es, das ist doch längst Geschichte, auch wenn ich es nicht wirklich so empfinde, und dann werde ich weinen, und du wirst denken, dass du eine bedeutungsvolle Verbindung hergestellt hast, wohingegen du mich in Wirklichkeit nur zum Weinen gebracht hast. Wieder einmal. Und dann wirst du wieder abhauen, zurück zu deinem großen Leben und deinen wahnsinnig interessanten Freunden in der Großstadt, und ich werde hier sein und alles wird genauso sein, wie es war, bevor du zurückgekommen bist, nur dass es jetzt diesen ärgerlichen kleinen Epilog geben wird. Und deshalb sage ich noch einmal, es ist sinnlos.« Sie sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Meinst du nicht auch?«
»Das ist eine Möglichkeit, es zu betrachten«, sage ich langsam. »Eine neurotische und deprimierende Möglichkeit, aber eine Möglichkeit, nehme ich an. Darf ich widerlegen?«
»Es ist ein freies Land.«
Ich hole einmal tief Luft. »Erstens einmal bin ich sicher, dass es interessant ist, die Zeitung zu leiten und das alles, aber offen
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