Stadtfeind Nr.1
erheben. »Das war es dann also?«
Ich sehe, wie die Wut sich allmählich auflöst, wie sich die Muskeln ihres Gesichts und ihrer Schultern langsam entspannen, als sie einmal tief Luft holt.
»Das war es. Noch einmal, es tut mir wirklich sehr Leid. Du hattest in allen Punkten Recht. Ich weiß nicht, wofür zum Teufel ich mich gehalten habe.«
Carly nickt und wendet sich dann, anstatt aufzustehen, ab und sieht aus dem Fenster. »Stell mir eine Frage«, sagt sie leise, und jede Spur von Wut ist nun aus ihrer Stimme gewichen. »Was?«
»Fair ist fair. Frag schon.«
Ich sehe sie ungläubig an, setze mich wieder und betrachte ihr Spiegelbild im Fenster. »Hasst du mich?«, fragt mein Spiegelbild.
»Ja«, sagt ihres. »Manchmal.« »Liebst du mich?«
Sie ist einen Augenblick still, und ich kann spüren, wie ich ein Jahr älter werde, während ich auf ihre Antwort warte. »Natürlich liebe ich dich«, flüstert sie mit einer Stimme, die über dem prasselnden Regen kaum hörbar ist.
Ich nicke und zittere unmerklich, während die Nachricht an meine inneren Organe weitergeleitet wird. Ich gebe mir nicht den Anschein, Frauen zu verstehen. Oder vielmehr, genau das ist es, was ich tue. Mir den Anschein geben. Aber manchmal ist es für mich offensichtlich, dass es sich nicht einmal lohnt, es zu versuchen. Das ist eindeutig einer dieser Augenblicke, aber irgendwie dämmert es mir, wie durch eine Art göttliche Prophezeiung, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem alles Machbare erreicht ist, und dass es ein Fehler sein würde, auf noch mehr zu drängen. Und so beschließe ich, obwohl es eine Million Dinge gibt, die ich sagen will, alles in eine entscheidende Frage zu packen. »Carly.«
»Ja?« Im Fenster wendet sich ihr Spiegelbild zu meinem um.
»Meinst du, du hättest irgendwann Lust auf ein Date mit mir?«
Draußen geht ein solch gewaltiger Donnerschlag nieder, dass die Fensterscheibe klirrt, und drinnen sieht mich Carly mit den Augen einer Fremden an und sagt: »Vielleicht. Ich weiß nicht. Frag mich morgen noch einmal.«
Ich folge Carly gerade aus dem Duchess, als das Geräusch der Schwingtür hinter dem Tresen mich veranlasst, den Kopf zu wenden. Sheila ist soeben durch diese Tür in die Küche gegangen, und in dem Augenblick, bevor sie zufällt, sehe ich einen Mann, der gegen einen Stahltresen gelehnt dasteht. Er hat mir den Rücken zugekehrt, als sie sich umarmen, aber kurz bevor die Tür sich schließt, erhasche ich einen kurzen Blick auf sein Profil, und obwohl der Winkel schlecht ist, bin ich mir ziemlich sicher, dass der Mann mein Bruder Brad ist.
29
Ich fahre Carly zu ihrem Büro zurück, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie unser Lunch gelaufen ist. Ich weiß nur, es war anders als geplant. Sie bedankt sich rasch und verlegen, wobei sie den Blickkontakt auf ein Minimum beschränkt, und ihre gekünstelte Höflichkeit klingt wie ein Vorwurf in meinen Ohren. Als ich den Firmenpark verlasse, reiht sich hinter mir eine bläulich-violette Lexus-Limousine in den Verkehr ein. Derselbe Wagen war mir vorhin schon aufgefallen, als er vom Duchess zurück zum Minuteman hinter uns herfuhr. Ich spiele mit dem Gedanken, das Gaspedal durchzutreten, da ich mir ziemlich sicher bin, dass der Mercedes in diesem Fall besser ausgerüstet ist, aber das nasse Wetter und der wachsende Stapel von Verkehrsübertretungen in meinem Handschuhfach überzeugen mich vom Gegenteil. Und so biege ich stattdessen auf die Tankstelle an der Stratfield, Ecke Pine, ein, lenke den Wagen unter das Vordach und steige aus, um zu tanken. Der Lexus zögert eine Sekunde und steuert dann die Zapfsäule neben mir an.
Die Tür schwingt auf, und einen Augenblick lang höre ich die nasalen Vokale und die Quintakkorde von Green Day aus der Stereoanlage dröhnen, bevor der Fahrer den Motor abstellt. Sean Tallon steigt aus dem Wagen, und in seinem lächerlichen knöchellangen Ledermantel und den schwarzen Motorradstiefeln wirkt er wie aus einem Film entstiegen.
»Hey, Sean«, sage ich mit einem betonten Blick auf sein Outfit. »Was trägt Shaft denn heute?« In Situationen, die mich nervös machen, halte ich es oft für das Beste, einfach loszuquasseln wie ein Idiot.
Sean rammt seinen Tankverschluss in den Griff des Zapfhahns, um den Benzinstrom nicht zu unterbrechen, ein brillant einfacher Trick, auf den ich noch nie gekommen bin, und kommt dann, grinsend über meinen kleinen Witz, auf mich zu. »Goffman«, sagt er. »Immer noch
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