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Stadtfeind Nr.1

Stadtfeind Nr.1

Titel: Stadtfeind Nr.1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Tropper
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mich hochstemmen kann. Wenn mir bei diesem etwas riskanten Schritt als Jugendlicher mulmig zu Mute war, dann kann ich mich zumindest nicht daran erinnern, aber jetzt lässt er mich auf jeden Fall einen Augenblick innehalten. Ein Ausrutscher, und ich falle gute fünf Stockwerke tief auf die Promenade vor der Schule. Trotzdem, Wayne in seinem geschwächten Zustand hat es geschafft, warum zum Teufel sollte ich dann klein beigeben? Bevor mein Zögern sich zu einer Lähmung ausweiten kann, greife ich nach der Leiste, wobei die körnige Betonkante meine Fingerspitzen tätowiert, und schwinge mich mit den Beinen auf den Sockel der Kuppel. Die Menge unter mir stöhnt kollektiv erleichtert auf.
    Wayne sitzt gegen die Kuppel gelehnt da, eine Zigarette im Mund und eine andere, eben erst angezündet, zwischen seinen dünnen Fingern in meine Richtung baumelnd. »Hey, Joe«, sagt er und begrüßt mich mit einem beiläufigen Nicken.
    »Hey.« Ich stemme mich hoch und rutsche dann auf dem Bauch nach vorn, bis ich sicher auf der Leiste sitze. »Wie geht's denn?«
    »Prima.«
    Ich nehme die Zigarette und rolle mich so hin, dass ich neben ihm sitze, wobei unsere Füße gefährlich über den Rand des Gebäudes baumeln. »Warum kann ich mich bloß nicht erinnern, dass es uns damals gefährlich vorkam?«
    »Weil wir früher unsterblich waren«, sagt Wayne, der noch immer zwischen seinen Füßen hindurch auf den Tumult unter uns starrt.
    »Das muss es gewesen sein.« Ich ziehe der Form halber einmal an der Zigarette. Der Rauch schmeckt schal und beißt hinten in der Kehle. »Also«, sage ich. »Was ist los?«
    Wayne nickt, als hätte er auf die Frage gewartet. »Als ich heute Morgen aufgewacht bin, habe ich mich besonders stark gefühlt«, sagt er. »Und irgendetwas hat mir gesagt, dass es gut möglich ist, dass das der letzte Tag ist, an dem ich unabhängig beweglich bin. Du kannst dir nicht annähernd vorstellen, wie das ist - zu wissen, dass das der letzte Tag ist, an dem ich einfach aus dem Bett steigen und die Welt und den Himmel sehen und den Boden unter meinen Füßen und den Wind in meinem Gesicht spüren kann.« Er hält einen Augenblick inne, um einen kleinen, fast kindlichen Zug an seiner Zigarette zu nehmen. »Also, um es noch kürzer zu machen, als es ohnehin schon ist, ich habe einen Spaziergang unternommen, und hier bin ich.«
    »Ich kann gar nicht glauben, dass du es geschafft hast, das ganze Stück hier hochzuklettern«, sage ich.
    »Ja, nicht wahr? Ich war mir selbst nicht sicher, ob ich es schaffen würde.« »Und wie wolltest du wieder herunterkommen?« Wayne beugt sich vor und sieht zwischen seinen Zehen hindurch auf die Menge unter uns und wendet sich dann mit einem wehmütigen Lächeln wieder zu mir um. »Abkürzung.«
    »Wayne, Mann.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ein paar graue Tauben landen rechts von uns auf der Leiste, und die jadegrünen Flecken in ihrem Gefieder glitzern in der Sonne wie Pailletten. Ich habe mir Tauben noch nie bunt vorgestellt, und fasziniert sehe ich zu, wie sie ein paar Minuten in einem kleinen zappeligen Ballett herumtänzeln, bevor sie unter lautem Flügelschlagen davonfliegen.
    »Ich bin es leid, Mann«, sagt Wayne. »Ich bin es so verdammt leid, jeden Morgen aufzustehen und einen auf tapfer zu machen und es so aussehen zu lassen, dass es für alle schon okay ist, dass ich sterbe.« Er drückt zornig seine Zigarette aus, während ihm Tränen der Wut in die Augen steigen. Seine trockenen Lippen zittern, aber er versucht, den Zorn und die Angst, die in ihm brodeln wie ein Hexengebräu, hinunterzuschlucken. Irgendwie erscheint es widersinnig, dass jemand, der dem Tod so nah ist, der so ausgedörrt ist, immer noch so viele Tränen hervorbringen kann. »Verdammt, ich sterbe, Mann, und weißt du was? Das ist nicht okay. Es ist eine verdammte Tragödie. Ich bin viel zu jung zum Sterben. Und ich kann nicht immer nur kluge Sprüche vom Stapel lassen und so tun, als hätte ich meinen Frieden mit der ganzen verdammten Geschichte geschlossen.«
    »Wer sagt denn, dass du das musst?«, sage ich, nur um etwas zu sagen.
    Wayne fixiert mich mit einem merkwürdigen Blick. »Ich bitte dich, Joe. Das weiß doch jedes Kind. Junge Menschen mit einer unheilbaren Krankheit entwickeln einen launischen, leicht sarkastischen Humor, um alle anderen zu beschwichtigen und angesichts kolossal vermasselter Ereignisse als glänzendes Beispiel der Würde zu dienen. Siehst du denn nie Lifetime,

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