Stadtfeind Nr.1
dass sich so viele Leute in deinem Leben für den Tod durch Ertrinken entscheiden?« Er starrt mich an, wartet, ob er mich ködern kann. »Du solltest dir dazu vielleicht einmal Gedanken machen.«
»Es ist mit Sicherheit Stoff zum Nachdenken«, sage ich. Ich spüre, wie meine Beine schwach werden, als ich über den Rand der Wasserfälle äuge. Es ist gut und gerne ein Fall über vier Stockwerke, und Mitte Oktober dürfte die Temperatur des Wasser nur knapp über dem Gefrierpunkt liegen. Der Erfolg einer Landung im Wasser hängt entscheidend davon ab, die großen, kegelförmigen Felsen zu vermeiden, die aus dem strudelnden Wasser aufragen wie die Hörner eines riesigen untergetauchten Monsters.
Sean zeigt auf eine Stelle irgendwo in den Wäldern unter uns. »Ich hatte in der Nacht, in der Sammy gesprungen ist, dort unten geparkt«, sagt er, wobei ein echter Ausdruck wehmütiger Nostalgie über sein Gesicht zieht. »Mit Vicki Hooper? Erinnerst du dich noch an Vicki Hooper?«
»Vicki Hooters«, sage ich.
»Richtig«, sagt er kichernd. »Vicki Hooters. Titten wie verdammte Wassermelonen. Die konnten sich sehen lassen.« Er hält einen Augenblick inne, um in der Erinnerung zu schwelgen. »An dem Abend hatte ein ganzer Haufen von uns dort geparkt und rumgemacht, und dann hieß es irgendwann, irgendjemand sei gesprungen. Natürlich, wir haben erst am nächsten Tag erfahren, dass es Sammy war, weißt du? Dass er gesprungen war und sich umgebracht hatte. Wir wussten nur, dass irgendjemand gesprungen war. Ich habe an dem Abend eine erstklassige Nummer von Vicki bekommen, dank deinem kleinen Kumpel. Du weißt ja, nach der Tradition, die hier herrscht.« Er dreht sich um und grinst mich boshaft an. »Jedenfalls, ich dachte nur, du solltest wissen, dass ich kam, als Sammy ging.« Seine Augen sind weit aufgerissen, fordern mich zu einer Reaktion heraus.
»Vicki Hooters war eine Schlampe.«
Vielleicht sehe ich die Hand hochfahren, ich bin mir nicht sicher, aber mir entgeht auf jeden Fall die Faust, die mir jedoch den Gefallen nicht erwidert, sondern mit der Kraft einer Lokomotive auf mein Kinn trifft, und ich gehe zu Boden wie eine Marionette, die von ihren Schnüren abgeschnitten wird. Nicht bewusstlos, aber eindeutig nahe dran. Sean kauert sich neben mich, kopfschüttelnd und lächelnd. »Beantworte mir eine Frage, ja?«, sagt er. »Du hast Carly Diamond hier gevögelt. Das ist allgemein bekannt, nachdem du der ganzen Welt all die schlüpfrigen Details in deinem Buch erzählt hast. Wieso ist also mein Mädchen eine Schlampe und deines nicht? Ein Fick ist ein Fick ist ein Fick, habe ich nicht Recht?«
»Wenn du es sagst.«
Ich rolle mich auf die Seite und versuche mich hochzurappeln. Sean beschleunigt den Prozess, indem er mich an meinem Hemd hochzieht und mich vor sein Gesicht hält, Nase an Nase, wobei ich nun mit dem Rücken zu den Wasserfällen stehe, die auf einmal gefährlich näher klingen als noch vor ein paar Sekunden.
»Weißt du, was der Unterschied zwischen uns ist, Goffman?«
»Mundhygiene?«
Sean lächelt und schlägt mir ins Gesicht, ein schmerzhaft brennender Hieb, der mir die Tränen in die Augen treibt. »Falsche Antwort.« Die korrekte Antwort erweist sich als folgende: »Jemand spielt dir übel mit, beleidigt oder bedroht dich oder deine Lieben, und du unternimmst verdammt nochmal nichts, außer danach darüber zu schreiben. Es würde dir nicht einmal einfallen, zur Tat zu schreiten, ein Mann zu sein. Dein ganzes Buch war einfach nur dein Eingeständnis, dass du ein viel zu großes Weichei bist, um für dich selbst oder deine Schwuchtelfreunde damals auf der Highschool einzutreten. Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt, indem ich zur Tat schreite. Wenn irgendwo ein Gebäude abgerissen werden muss oder ein Berg einer Straße im Weg steht, dann setze ich mich nicht an meinen Computer und schreibe eine hübsche kleine Geschichte darüber. Ich sprenge ihn in die Luft. Reiße ihn völlig ein. Und wenn mir irgendjemand ein Unrecht tut, dann tue ich verdammt nochmal dasselbe.« Er verstärkt seinen Griff um mein Hemd und tritt einen Schritt näher an den Rand. Ich denke daran, wie Carly mein Hemd gestern auf genau dieselbe Weise umfasste, als sie mich küsste, und verspüre eine Welle von Traurigkeit, die für einen kurzen Augenblick meine Angst betäubt.
»Also, was passiert jetzt, Sean?«, sage ich. »Willst du mich in die Luft sprengen?«
»Nö. Aber ich überlege mir ernsthaft, ob ich dich nicht von
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