Stadtfeind Nr.1
diesem Felsen schubsen soll.«
»Da bin ich aber erleichtert. Einen Augenblick lang dachte ich nämlich schon, du bist wieder einmal auf eine erstklassige Nummer aus.«
Alle Farbe weicht aus Seans Gesicht, und er tritt noch einen bedrohlichen Schritt nach vorne. Ich kann seinen Atem auf meiner Nase spüren, auch dann noch, als ich spüre, wie meine Absätze den Rand der Felsplatte erreichen. »Weißt du was?«, sagt er. »Ich glaube, du willst, dass ich dich über den Felsen schubse. Ich habe dir jede Gelegenheit gegeben, die Stadt zu verlassen, und ich denke, der Grund, weshalb du noch nicht gegangen bist, ist der, dass du ein durchgeknalltes, selbstmörderisches Weichei bist, genauso ein durchgeknalltes, selbstmörderisches Weichei wie deine Mutter. Du wartest doch nur darauf, dass dich irgendjemand aus deinem Elend befördert.«
Ich betrachte sein Gesicht, das nur wenige Zentimeter von meinem eigenen entfernt ist, und versuche abzuschätzen, wie groß die Gefahr tatsächlich ist, in der ich möglicherweise schwebe. Zwar liegen Welten zwischen uns, aber Sean und ich sind zusammen aufgewachsen, haben uns als Kinder gegenseitig zu unseren Geburtstagspartys eingeladen und in unzähligen Spielen auf dem Spielplatz zusammen Basketball gespielt, bis es aufgrund seiner Stellung bei den Cougars unter seiner Würde war, mit Jungen von meinen bescheidenen Fähigkeiten zu spielen. Wir können uns mit Sicherheit hassen, sind vielleicht dazu fähig, handgreiflich werden, aber ich habe den Eindruck, dass unsere gemeinsame Vergangenheit einen radikalen Akt absoluter Gewalt, der mit Sicherheit Verletzungen und vielleicht den Tod bedeuten würde, beispielsweise mich von einer Klippe zu schubsen, ausschließt. All meine Instinkte sagen mir, dass er nicht wirklich vorhat, mich über die Wasserfälle zu stoßen. Es ist nun an mir, etwas unterwürfig Versöhnliches zu sagen, etwas, das ihm zeigt, dass er die Oberhand behält, und ihm den nötigen Manövrierraum bietet, sich ohne Gesichtsverlust zurückzuziehen. »Sean«, fange ich an. Er schüttelt den Kopf und schubst mich lässig über die Klippe.
Die Geschwindigkeit, mit der ich mich auf einmal durch die Luft bewege, ist blendend. In einem Augenblick stehe ich noch da und atme seinen schalen Zigarettenhauch, und im nächsten fliege ich schon über die Wasserfälle. Ich schlage seitlich auf das eisige Wasser auf, und für ein paar Sekunden ist alles um mich herum still, als der Druck der Wasserfälle mich in die Tiefen des Flusses hinunterpresst. Die Zeit verliert jede Bedeutung, und dann verliert die Bedeutung alle Bedeutung, und das Einzige, was noch existiert, ist das leise, besänftigende Dröhnen der Wasserfälle fünf Meter unter der Oberfläche. Alles erscheint mir in unterschiedlichen Tönen desselben gedämpften Grüns, die Felsen, der schlammige Grund des Flusses, die Rückseite meiner Augenlider, wenn ich blinzele. Ich verspüre keinerlei Panik, auch wenn ich auf einer gewissen Ebene weiß, dass sie kommen wird, sobald der Schock nachlässt. Aber im Augenblick herrscht nur dieses starke Gefühl eines urtümlichen Friedens, und in diesem erstarrten Augenblick begreife ich das Bedürfnis; für immer unter der Wasseroberfläche zu bleiben und den dunklen, wogenden Frieden zu finden, der so leicht und so vollkommen alle anderen Überlegungen auszuschließen scheint. Ich denke, ich ziehe es sogar für einen kurzen Augenblick in Erwägung. Und dann, mit derselben Kraft, mit der es mich nach unten gezogen hat, speit mich das tosende Wasser durch seine Kehle wieder an die Oberfläche, wo ich verzweifelt nach Luft schnappe. Die Betäubung durch die eisige Wassertemperatur kommt mit etwas Verspätung, die Strömung reißt mich mit und lähmt meinen Rücken und meine Beine, mit denen ich über die Felsen und Zweige kratze, die dicht unter der Oberfläche des schäumenden Wassers liegen. Der Fluss verbreitert sich in einer Biegung und entleert sich dann in einen zweiten seichten Tümpel, in dem sich die Strömung für einen Augenblick verlangsamt. Es gelingt mir, Boden unter die Füße zu bekommen und an den Rand des Wassers zu taumeln, unkontrolliert zitternd, aber lächerlich erleichtert darüber, am Leben zu sein. Kaltes Wasser tropft an meinem Körper hinunter, und es ist Sammys Gruß, die Umarmung meiner Mutter, und ich werde von einer solch heftigen Euphorie übermannt, dass sie mich fast blendet. Ich bin getauft und erneuert, und es ist, als seien Sinn und Gleichgewicht,
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