Stadtfeind Nr.1
hinauffahren kann, lasse, ich meinen Wagen stehen und gehe zu Fuß die letzten etwa zwanzig Meter bis zu dem rostigen Geländer, von dem man auf die Wasserfälle hinunterblickt. Hinter diesem Geländer liegt ein rundlicher Vorsprung aus größeren Felsen, auf denen die etwas wagemutigeren Jugendlichen oft saßen, ihr illegal erworbenes Bier tranken und ihr Leergut direkt in die kaskadenartigen Wasserfälle warfen, die kaum drei Meter vor ihnen in die Tiefe stürzten. Diese Stelle ist zugleich der legendäre Startplatz der wenigen, die über die Wasserfälle gesprungen sind. Ich steige über das Geländer und schiebe mich vorsichtig auf den Felsen vor, wobei ich auf dem Arsch Stück für Stück vorwärts rutsche, bis ich einen verhältnismäßig flachen Abschnitt erreicht habe. Mit übertriebener Vorsicht richte ich mich auf, während genau vor mir das Wasser tosend in den Fluss hinunterschießt. Ich bin den Wasserfällen zum Greifen nah, so nah, wie ein Mensch ihnen sein kann, ohne in ihnen zu sein, und die Kombination ihres ohrenbetäubenden Lärms und der feinen Gischt, die mich augenblicklich mit einer Schicht kalter Feuchtigkeit bedeckt, ist verwirrend und Schwindel erregend, obwohl ich mich sicher auf beiden Beinen halte. Es ist beängstigend und berauschend zugleich, so dicht vor dieser gewaltigen Kraft der Natur zu stehen, und es ist außerdem erstaunlich tröstlich, auf diesem hohen Felsvorsprung zu kauern, in einer einsamen Zwiesprache mit den Wasserfällen.
»Hey, Goffman.« Allein die Stimme, so unerwartet, reicht aus, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, und für einen winzigen Augenblick spüre ich, wie sich mein Schwerpunkt gefährlich nach vorn verlagert, bevor ich leicht zurückzucke und ein wenig mit den Armen rudere, um gegenzusteuern. »Hey, Sean«, sage ich. »Was führt dich denn hierher?«
Er steht lässig gegen das Geländer gelehnt da, in seinem Ledermantel und den schwarzen Jeans, und raucht eine Zigarette zu Ende. Seine Anwesenheit hier ist, milde ausgedrückt, mehr als verwunderlich, und für einen winzigen Augenblick gebe ich mich der unwahrscheinlichen Vermutung hin, es könnte sich tatsächlich um einen Zufall handeln. »Ich bin hier vorbeigefahren, und dann habe ich gesehen, wie dein Wagen von der Hauptstraße abgebogen ist.«
»Du hast gesehen, wie ich abgebogen bin«, wiederhole ich skeptisch.
»Sah aus, als würdest du hierher kommen, um alte Zeiten wieder aufleben zu lassen, und da dachte ich mir, mit wem könntest du sie besser wieder aufleben lassen als mit mir?«
»Bist du mir gefolgt, Sean?«
»Schon möglich.« Er zieht ein letztes Mal an seinem Zigarettenstummel und schnippt ihn dann gekonnt an mir vorbei, sodass er augenblicklich vor dem Hintergrund der Wasserfälle verschwindet. Sean löst sich vom Geländer und steigt auf den Felsen hinunter, grinsend und ungläubig den Kopf schüttelnd. »Du bist mir vielleicht einer, Goffman. Ich sage dir, du sollst aus der Stadt verschwinden, und im nächsten Augenblick sehe ich dich im Fernsehen, wie du vom Dach der Highschool hängst. Für einen Burschen, der längst hätte abhauen sollen, hast du mit Sicherheit komische Vorstellungen davon, wie man sich dünn macht.«
»Und ob du's glaubst oder nicht, genau das habe ich versucht«, sage ich, während ich beklommen beobachte, wie er näher kommt. Ich schwanke zwischen meinem Bedürfnis, cool zu bleiben, und meinem Instinkt, einen Satz in Richtung des rettenden Geländers zu machen, bevor er sich zu weit davon entfernt. Ich gehe beklommen ein, zwei Schritte in seine Richtung, aber er bewegt sich schneller und bequemer auf der sattelförmigen, zerklüfteten Oberfläche des Felsens, und binnen weniger Sekunden hat er mich erreicht und sieht über meine Schultern auf die Wasserfälle. »Sieh dir das an«, sagt er. »Ganz schön beeindruckend, was?«
Ich wende mich halb um, um mit ihm auf die Wasserfälle zu blicken, und denke, dass es sich vermutlich auszahlen würde, ihn mit Konversation bei Laune zu halten, um dann den richtigen Moment abzupassen, um zum Geländer zu sprinten. Ich brauche nur einen Schritt Vorsprung, höchstens zwei, und ich bin in Sicherheit. »Das ist die Stelle, wo dein Freund Sammy draufgegangen ist, was?«, sagt Sean über das Dröhnen der Wasserfälle. Ich schweige beharrlich und blicke auf das peitschende Wasser, außer Stande, von meiner Position aus bis auf den Grund zu blicken. »Deine Mutter auch, wenn ich mich nicht irre. Was ist bloß an dir,
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