Stadtfeind Nr.1
über zweihundert Seiten geschrieben. Und was noch wichtiger ist, ich denke, die meisten von ihnen werde ich stehen lassen können.
Carly hat sich im Wohnzimmer ein provisorisches Büro eingerichtet und verbringt vormittags die meiste Zeit an ihrem Handy, bespricht sich mit ihren Mitarbeitern und sieht sich Layouts und E-Mails auf ihrem erschreckend großen Laptop an. Wann immer Wayne aufwacht, kommt sie zu uns herüber, und wir drei führen lange, ausgedehnte Gespräche über alles und nichts, wir erinnern uns und erzählen uns Geschichten von dem Leben, das jeder von uns bis zu diesem Punkt geführt hat, als sei unser ganzes Erwachsenendasein nicht mehr als ein Füllstoff gewesen, bis wir wieder zusammenkommen konnten. Wir lachen viel, mitunter angespannt, bis sich unser vereintes Lachen jedes Mal in denselben wehmütigen Seufzern und abgewandten Blicken verliert. Es ist einfach zu schwer, zu wissen, wie man sich fühlen soll. Niemand will der Stimmung einen Dämpfer verpassen, aber die fröhlichen Klänge unserer Gespräche, die vor dem Hintergrund unseres Schweigens auffällig widerhallen, können bisweilen herzlos und respektlos gegenüber der Situation wirken, in der wir uns befinden. Was ist im Angesicht des Todes besser, zu lachen oder zu weinen? Da uns jegliche Anhaltspunkte fehlen, die für das eine oder das andere sprechen könnten, schlingern wir auf gut Glück zwischen beidem hin und her, in der Hoffnung, dass mit dem Kompromiss, den wir finden, Wayne am besten gedient ist. Etwas später an diesem Nachmittag kommt Jared vorbei, um Hallo zu sagen. Er hat eine Sympathie für Wayne entwickelt, die an Faszination grenzt, und so kommt er jeden Tag vorbei, um sich zu ihm auf die Bettkante zu setzen und unsere Gespräche mit anzuhören. Wayne seinerseits scheint Jareds Gesellschaft zu genießen und unterbricht uns oft mitten in einer Anekdote, um Jared mit einzubeziehen. »Warte, bis du das gehört hast«, sagt er ab und zu sardonisch zu meinem Neffen, wenn einer von uns beginnt, eine Geschichte aus unserer gemeinsamen Vergangenheit zu erzählen. »Ich denke, dann wirst du mir zustimmen, dass dein Onkel ein ganz schöner Knallkopf war.«
Ich erzähle die Geschichte von dem Abend, an dem Wayne und ich, da wir nichts Besseres zu tun hatten, in seinem Wagen ein nahe gelegenes Stück der I-95 auf und ab fuhren, an dem eine Reihe von Tankstellen lagen. Wir hielten an jeder Tankstelle an, fragten nach dem Schlüssel für die Toiletten und fuhren dann damit davon. Am Ende des Abends hatten wir sieben Schlüssel eingesammelt, die Wayne in seinem Handschuhfach aufbewahrte, damit wir immer Zugang zu den Toiletten haben würden, wenn wir eine Spritztour unternahmen. Wayne erzählt, wie wir drei nach Manhattan fuhren, um Elton John im Madison Square Garden spielen zu sehen. An der Ecke Dreiunddreißigste und Achte bezahlte jeder von uns einem Abzocker achtzig Dollar, nur um am Eingang der Arena, als wir hineinwollten, festzustellen, dass man uns jahrealte Fußballtickets verkauft hatte. Wayne und ich waren gründlich angewidert von unserer eigenen Dummheit, aber Carly schaffte es irgendwie, den Ticketkontrolleur zu beschwatzen, uns trotzdem hineinzulassen.
Carly überrascht mich, als sie erzählt, wie sie und ich, verzweifelt auf der Suche nach einem Ort, um Sex zu haben, in einer kühlen Frühlingsnacht bei Porter's über den Zaun kletterten und uns auf einer Picknickdecke nackt auszogen. Wir waren mitten bei der Sache, als sich die automatischen Rasensprenger auf einmal einschalteten und unsere abgelegten Kleider mit einem Sprühnebel von eiskaltem Wasser durchnässten. Wayne und Jared kugeln sich vor Lachen, als sie schildert, wie wir vergeblich versuchten, bei der Sache zu bleiben, trotz des ungebremsten Angriffs der Rasensprenger. Die Tatsache, dass ich es völlig vergessen hatte, schockiert mich so tief, dass ich in ein nachdenkliches Schweigen verfalle, und während die drei sich noch immer kaputtlachen, denke ich zurück an jene Nacht, an das Gefühl des Grases und an die glatte, glitschige Oberfläche von Carlys durchnässter Haut, während wir leidenschaftlich übereinander rutschten und die Glätte und plötzlich fehlende Reibung genossen.
»Joe?«
Ich fahre hoch und stelle fest, dass alle mich ansehen, Wayne und Jared mit amüsiertem Grinsen und Carly mit einem komischen, fragenden Blick. »Hätte ich diese Geschichte nicht erzählen sollen?«, fragt Carly.
»Was? Nein, nein. Schon gut«, beeile ich mich
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