Stadtfeind Nr.1
Morgenrock gegen das Küchenbüfett gelehnt stand und in aller Ruhe ihren Kaffee aus dem M r.1 M o m-Becher schlürfte, den ich ihr in der dritten Klasse zum Muttertag gekauft hatte.
Carly sitzt da und knabbert an ihrem Zimttoast, ein Bein hochgezogen, das Kinn nachdenklich aufs Knie gestützt. Es liegt eine natürliche Eleganz in ihrer Pose, eine leichte Anmut, die aus Persönlichkeit und Haltung gleichermaßen entsteht. Wie sie so dasitzt, in ihren verwaschenen Jeans und dem grauen Kapuzensweatshirt, sieht sie dem Highschoolmädchen, das sie einmal war, verblüffend ähnlich; der einzige Unterschied sind die schwachen Ringe unter den Augen, der verhärmte Gesichtsausdruck eines Menschen, der nicht annähernd so viel Schlaf bekommt, wie er sollte. Ihr Blick ist starr auf irgendetwas draußen geheftet, sodass ich sie für ein paar Sekunden gebannt beobachten kann, während ich den Wirrwarr von Emotionen, die sie in mir hervorruft, sichte und zu ergründen versuche, was genau ich für sie empfinde - was in etwa so ist, als würde man ein völlig verknotetes Seil entwirren wollen, wobei man letztendlich nur vor noch mehr Knoten in einer anderen Zusammensetzung sitzt.
»Was starrst du denn an?«, fragt sie, ohne sich zu mir umzuwenden.
»Nichts.«
Sie lächelt über die Lüge. »Ich wollte es nur wissen.«
»Kann ich dir etwas Verrücktes beichten?«
Carly wirft mir aus dem Augenwinkel einen misstrauischen Blick zu, sichtlich besorgt um die Richtung dieses speziellen Gesprächsaufhängers. Ich empfinde ihre etwas panischen Reaktionen auf mich immer noch beunruhigend. Die Carly, die ich kannte, war direkt und furchtlos, und die immer wieder aufflackernde Nervosität in ihren Augen scheint jetzt ein Schadensausmaß anzudeuten, das ich nicht völlig erfasse. Ich ziehe die Möglichkeit in Betracht, dass ihr Exmann im Wesentlichen für diese Verwandlung verantwortlich ist, aber ich frage mich, ob ich nicht einfach den schwarzen Peter weiterreiche, da die Alternative zu deprimierend ist, um sie in Betracht zu ziehen.
»Was denn?«, sagt Carly schließlich in einem Tonfall, der schon im Voraus ihr Bedauern ausdrückt.
»Ich habe eine tolle Wohnung in der Stadt«, erzähle ich ihr. »Eine wirklich tolle. Aber dort lebe ich jetzt schon seit über drei Jahren, und ich habe noch nie aufgehört, von ihr als von meiner neuen Wohnung zu denken. In diesem Haus hier zu leben, mit dir und Wayne, das ist für mich seit weiß Gott wie lange das erste Mal, dass ich jeden Morgen aufwache und mich zu Hause fühle. Und ich habe ein verdammt schlechtes Gewissen deswegen, wegen der ganzen Voraussetzung dieses Arrangements. Ich meine, Wayne liegt im Sterben, und das ist auf eine Million unterschiedliche Arten entsetzlich, aber gleichzeitig ist ein Teil von mir so dankbar für diese Zeit, die wir alle gemeinsam verbringen.« Carly starrt inzwischen wieder aus dem Fenster, aber mir fällt auf, dass sich ihr Gesichtsausdruck entspannt hat, und ein kleines, trauriges Lächeln ringelt sich um ihre Unterlippe. »Das ist ganz schön selbstbesessen, was?«, sage ich.
»Vielleicht.« Ihre Stimme ist ein feines, mit Schmetterlingen besticktes Kissen. »Aber ich weiß exakt, was du meinst. Mir geht es genauso.«
»Da bin ich aber froh. Dann fühle ich mich gleich besser.«
»Deswegen bist du nicht weniger selbstbesessen.«
»Ich weiß. Aber zumindest befinde ich mich in guter Gesellschaft.«
Wir lächeln uns an, als hätten wir uns eben ein intimes Geheimnis anvertraut, und die ungeschützte Art ihres Gesichtsausdrucks lässt mich für einen Augenblick zittern.
Nach dem Frühstück nehme ich meinen Laptop mit in Waynes Zimmer und arbeite an meinem Roman, während Wayne immer wieder in einen unruhigen Schlaf fällt. Ich habe es mir angewöhnt, in seinem Zimmer zu schreiben, da ich dadurch das Gefühl habe, ihm nah zu sein, und ich denke, ihm gefällt die Vorstellung, bei einem entstehenden Werk dabei zu sein, bei etwas, das erst abgeschlossen sein wird, wenn er schon nicht mehr ist, als würde er durch die Seiten der Erzählung irgendwie weiterleben. In meinem ersten Roman ging es um Wayne. In diesem hier gibt es keine Figur, die ihm auch nur annähernd ähnelt, und doch kommt es mir vor, als sei jede Seite auf die eine oder andere Weise von seinem Wesen durchdrungen. Und diese Seiten beginnen, wie ich zu meiner Freude feststelle, sich zu etwas Substanziellem zusammenzufügen. Ich arbeite noch keine drei Wochen daran, und ich habe bereits
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