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Stadtfeind Nr.1

Stadtfeind Nr.1

Titel: Stadtfeind Nr.1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Tropper
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bringe nur Wayne nach Hause«, sage ich. »Er brauchte ein bisschen Hilfe.«
    Sie sieht auf Wayne hinunter, der sich nicht vom Fleck gerührt hat, seit ich ihn auf sein Bett gelegt habe, und scheint einen Schritt vortreten zu wollen, um seine Decken glatt zu streichen, doch dann, als hätte sie es sich auf einmal anders überlegt, hält sie inne und bleibt, wo sie ist, die Hände steif vor der Brust gefaltet. »Wie kommt er denn dazu, sich einfach draußen herumzutreiben«, sagt
    sie stirnrunzelnd.
    »Er wollte einfach ein bisschen frische Luft schnappen.«
    »Frische Luft«, wiederholt sie und zieht verächtlich die Augenbrauen hoch. Dann bemerkt sie das Buch, das ich in der Hand halte. »Jetzt bist du also ein berühmter Autor«, sagt sie in demselben Ton, in dem sie hätte sagen können: »Jetzt bist du also ein verurteilter Pädophiler.« »Ich nehm's an«, sage ich.
    »Naja«, sagt sie abschätzig. »Mich wirst du nicht sehen, wie ich solchen Schund lese.«
    »Wenn Sie es nicht gelesen haben, woher wissen Sie denn dann, dass es Schund ist?«
    »Ich habe davon gehört«, erklärt sie ernst. »Und glaub mir, ich habe mehr als genug gehört.«
    »Naja«, sage ich, während ich das Buch zurück ins Regal stelle und auf die Tür zusteuere, »ich nehme an, das ist mein Stichwort.«
    Ich steige die Treppe hinunter, und erst jetzt fallen mir all die Kruzifixe und gesammelten Jesus-Kunstwerke auf, die jeden verfügbaren Platz an den Wänden einnehmen. Waynes Mutter folgt mir, leise irgendetwas vor sich hin murmelnd. Als ich die Haustür erreiche, ruft sie leise meinen Namen. Ich wende mich zu ihr um. »Ja?«, sage ich.
    »Ich bete für deinen Vater«, sagt sie.
    »Und was ist mit Ihrem Sohn?«
    Sie legt die Stirn in Falten und richtet den Blick zum Himmel. »Ich bete für seine Seele.«
    »Er ist noch nicht tot«, sage ich. »Ich glaube, er könnte etwas weniger Beten und etwas mehr Mitgefühl gebrauchen.«
    »Er hat gegen den Herrn gesündigt. Er bezahlt den Preis.«
    »Und ich bin sicher, die Bibel hat nichts als Lob für die Frau, die ihrem leidenden Kind in seinen letzten Tagen die Liebe einer Mutter verwehrt.«
    Sie wirft mir einen finsteren Blick zu, der erfüllt ist von der trotzigen Selbstgerechtigkeit der dogmatisch Frommen. »Wann hast du das letzte Mal in der Bibel gelesen, Joe?«
    »Sie werden mich nicht sehen, wie ich solchen Schund lese«, sage ich. »Ich habe davon gehört, und glauben Sie mir, ich habe mehr als genug gehört.«
    Ich brauche ein Heftpflaster. Es ist kurz nach halb drei Uhr morgens, als ich schließlich ins Haus meines Vaters schwanke, taumelnd und völlig erschlagen von einem Tag, der mir vorkommt, als sei er der längste meines Lebens gewesen. Ich finde etwas Neosporin und Mulltupfer in dem Medizinschränkchen in der Toilette im Erdgeschoss, aber Heftpflaster kann ich nirgends entdecken, und die Platzwunde an meiner linken Schläfe ist feucht und brennt an der freien Luft. Dann fällt mir ein, dass Heftpflaster immer im Badezimmer meiner Eltern in dem Medizinschränkchen über dem Wäschekorb aufbewahrt wurde, und diese simple Erinnerung löst eine Flut halb geformter Bilder aus meiner Jugend in mir aus, auf die ich irritiert und atemlos reagiere. Ich halte ein paar Sekunden inne, warte, bis sich das Chaos in meiner Magengegend beruhigt hat, und steige dann die Treppe hoch.
    Das Schlafzimmer meines Vaters hat sich kaum verändert, es hat immer noch die Einrichtung aus Eichenholz, den schmutzfarbenen Teppich und den verblichenen samtbezogenen Lesesessel, der unter Stapeln alter Zeitschriften und Zeitungen begraben ist. Der Frisiertisch meiner Mutter steht noch immer an seinem Platz, und die diversen Feuchtigkeitscremes und Parfümfläschchen sind immer noch vor dem Spiegel auf dem kleinen orientalischen Tablett platziert, seit über zwanzig Jahren unberührt. Ich weiß, wenn ich die Schubladen ihrer Kommode öffnen würde, würde ich auf ihre Blusen, Schals und Unterwäsche stoßen, ordentlich zusammengelegt und auf sie wartend. Ich weiß es, da ich in den ersten Jahren nach ihrem Tod oft an diese Schubladen gegangen bin und hin und wieder einen ihrer Schals in die Hand genommen habe, um den noch darin liegenden Hauch ihres Parfüms zu riechen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass mein Vater in den dazwischen liegenden Jahren die Kommode geleert hat. Sein Haus ist eine Gruft geworden, in der die vereinzelten Überreste dessen, was einmal eine Familie war, aufbewahrt werden, unberührt

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