Stadtfeind Nr.1
»Was zum Teufel?«, sage ich laut, während mir eine Träne über die Wange kullert und auf dem braunen Kunstleder des Albums landet. Eine zweite Träne folgt, und dann eine dritte. Ich starre auf die drei nassen Stellen auf dem Einband und frage mich, was zum Teufel sie zu bedeuten haben. Doch bevor mir irgendetwas einfällt, hat mich der Schlaf wie Einschweißfolie umhüllt, und das Letzte, was ich höre, ist das Geräusch des Albums, das mir aus den Fingern gleitet und mit einem sanften Aufschlag auf dem Teppichboden landet.
15
Mein erstes fliegendes Buch bekomme ich am nächsten Morgen gegen acht. Das Geräusch eines fliegenden Buchs erkennt man nicht auf Anhieb. Auf das leichte, flatternde Geräusch durch die Luft fliegender Seiten folgt ein misstönender dumpfer Aufschlag, wenn das Buch vom Aussichtsfenster des Wohnzimmers abprallt und im Vorgarten landet. Ich rolle mich von der Couch in der Wohnzimmernische meines Vaters, flau im Magen und ohne erkennbaren Schwerpunkt, und blinzele benommen durchs Wohnzimmerfenster. Ich erwarte, wieder einmal einen verwirrten oder verletzten Vogel zu sehen, der groggy auf dem Rasen liegt. Stattdessen werde ich von meinem eigenen Gesicht begrüßt, das selbstgefällig vom Schutzumschlag einer Hardcover-Ausgabe von Bush Falls zu mir hochlächelt, die mit dem Text nach unten aufgeschlagen auf dem Rasen liegt, die obere Hälfte des Buchrückens eingedellt von dem Zusammenprall mit dem Fenster. Die Straße vor dem Haus liegt völlig verlassen da. Hinter mir höre ich ein leises Atmen, und als ich mich umwende, sehe ich Jared, der in Jeans und einem schwarzen T-Shirt mit dem Schriftzug »Bowling for Soup« auf der Wohnzimmercouch schläft. Ich kann mich nicht erinnern, ihn gesehen zu haben, als ich gestern Nacht nach Hause kam, auch wenn das wohl kaum etwas zu sagen hat. »Hey, Jared«, murmele ich. Vier Betten oben, und wir schlafen auf zwei Sofas.
»Hey«, knurrt er zurück, ohne die Augen aufzuschlagen.
»Du kommst zu spät zur Schule.«
Er schlägt ein Auge auf. »Dann lohnt sich's doch wohl nicht mehr, hinzugehen, oder?« Das Auge klappt zu.
Ich werde ihm keinen Vortrag halten. Ich steige die Treppe hoch, um zu duschen, wobei ich nur einen Augenblick innehalte, um aus meinen Shorts zu schlüpfen und über der Toilette ein paar Mal krampfhaft zu würgen, ohne mich zu übergeben. Das Licht sticht mir wie Nadeln in die Augen, also dusche ich im Dunkeln, gegen die kalten Kacheln gedrückt, um wach zu werden. Das heiße Wasser trommelt besänftigend auf meinen Schädel, rinnt mir in Strömen über Gesicht und Schultern, und meine Gedanken schweifen ab. Ich denke an Wayne und dann an meinen Vater und das Sammelalbum, das ich gestern Nacht gefunden habe. Es erscheint mir unglaublich, dass diese beiden Menschen und Falls vor dem gestrigen Tag noch ein solch entlegener Teil meines Lebens waren, ferne Erinnerungen, mehr als irgendetwas sonst. Und jetzt drohen sie mich zu verzehren, und der Schutzwall der letzten siebzehn Jahre löst sich auf wie eine Fata Morgana.
Triefend betrete ich mein Schlafzimmer, fühle mich verkatert und alt, und dann sehe ich Jared, der sich auf meinem Bett die Zehennägel schneidet. »Nun sieh dich bloß einmal an«, sagt er mit einem fragenden Grinsen, während er mein ramponiertes Gesicht und meine geprellten Rippen in Augenschein nimmt.
»Sieh du mich an. Ich bin zu müde.«
»Weißt du«, fährt er desinteressiert fort, »statistisch betrachtet lässt sich, wenn man bei einer Prügelei zumindest ein paar Faustschläge abwehrt, im Allgemeinen ein wesentlich günstigeres Ergebnis erzielen.«
»Ich werde es künftig beachten.«
Von unten kommt noch ein Knall, und als wir beide aus dem Fenster blicken, sehen wir eben einen grünen Kombi um die Ecke verschwinden. Auf dem Rasen liegt jetzt ein zweites Exemplar von Bush Falls, nicht weit neben dem ersten. »Was soll das denn?«, fragt Jared, nicht besorgt, nur leise interessiert, lehnt sich dann zurück, um sich weiter die Zehennägel zu schneiden.
Mein Handy klingelt, und Jared nimmt es vom Nachttisch und wirft es mir zu. Es ist Owen, der mich anruft, um zu sehen, wie es bei mir läuft. Ich kläre ihn über den aktuellen Zustand meines Vaters auf, und er gluckst und murmelt an allen richtigen Stellen.
»Und wie war es sonst?«, erkundigt er sich ohne Umschweife. »Du weißt schon, deine Rückkehr nach Falls?« »Ziemlich verrückt.« »Ich wusste es!«, ruft er fröhlich. »Erzähl schon, erzähl
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