Stadtfeind Nr.1
seinen Verbleib entdecken. Mrs. Hargrove hatte einen Anrufbeantworter installiert und war dazu übergegangen, alle Anrufe zu selektieren, und meine regelmäßigen Erkundigungen fielen dabei offensichtlich durch.
»Ich glaube nicht, dass er wiederkommt«, sagte Carly eines Nachmittags sanft zu mir. Es war einer der ersten warmen Frühlingstage, und wir saßen in einer Freistunde auf der Sonnentribüne mit Blick auf das Footballfeld und genossen das frische Wetter. Wayne war seit über einem Monat verschwunden.
»Natürlich kommt er wieder«, sagte ich. »Wie kannst du denn so etwas sagen?«
Sie verhakte ihre Finger in meinen und sah auf das Spielfeld hinaus. »Würdest du denn?«
Ich schüttelte den Kopf. »Aber wo steckt er? Ich meine, man würde doch annehmen, dass er mich anrufen würde oder irgendwas. Nur um uns wissen zu lassen, wo er ist. Ich bin doch angeblich sein bester Freund, Herrgott nochmal.«
Carly lehnte sich gegen mich und küsste mich seitlich auf die Wange. »Das wird er tun, wenn er so weit ist.«
Ich lehnte meinen Kopf gegen ihren und küsste sie auf die Kopfhaut, wo sich ihr Haar teilte. »Ich frage mich, ob er Sammy angerufen hat«, sagte ich.
Seit Waynes Verschwinden hatte sich Sammy strikte Unsichtbarkeit zum Prinzip gemacht. Seine Schulbesuche waren äußerst sporadisch, und wenn er tatsächlich auftauchte, dann bewegte er sich wie ein Phantom durch die Korridore, hielt sich dicht an die Wände und schlüpfte unauffällig in die Klassenzimmer, und wieder hinaus. Sein Haar, nicht mehr zu einer Tolle hochfrisiert, wuchs länger und lag ihm flach am Schädel, und er wirkte immer etwas zerknautscht und neben der Spur, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen. Wenn ich ihm, was selten vorkam, zufällig über den Weg lief, wechselte er ein paar rasche, oberflächliche Worte mit mir, wobei er jeden Blickkontakt sorgfältig vermied.
An ein paar vereinzelten Abenden schaute ich bei ihm zu Hause vorbei, weniger von Freundschaft motiviert als von der Möglichkeit, dass er vielleicht von Wayne gehört hatte. Aber Sammy war mürrisch und nicht sonderlich kommunikativ, und nachdem wir vielleicht zehn Minuten in seinem Zimmer gesessen hatten, riss der Gesprächsfaden im Allgemeinen ab. »Er hat Probleme, Joe«, sagte Lucy an einem dieser Abende zu mir, als sie mich die Stufen hinunter zu meinem Wagen begleitete. »Ich dringe nicht zu ihm durch.«
»Ich auch nicht«, sagte ich. »Es ist, als ob er auf alle stocksauer ist.«
Sie lehnte sich gegen meinen Wagen und rauchte eine Zigarette. Sie fröstelte ein wenig in der kalten Nachtluft, und sie sah klein und verletzlich aus. Auf dem Podest in meinem Kopf ragte sie immer überlebensgroß auf, und es war jedes Mal eine Entdeckung, wenn ich feststellte, wie viel größer als sie ich tatsächlich war. Es könnte so leicht sein, dachte ich, einfach einen Schritt vorzutreten und die Arme um sie zu schlingen. »Es bringt mich verdammt nochmal um den Verstand«, sagte Lucy kopfschüttelnd. »Er isst kaum noch; er redet nicht mit mir. Ich weiß nicht, was zum Teufel ich noch machen soll. Ich denke, ich bin ihm eine gute Mutter gewesen, weißt du? Ich meine, Sammy ist kein leichter Brocken, das kann ich dir sagen.« Sie stieß etwas Rauch aus und vertrieb ihn dann mit ein paar raschen, nervösen Handbewegungen. »Und ich weiß, dass ich alles andere als das Idealbild einer Mutter bin; da mache ich mir keine Illusionen. Ich war kaum älter als du, als ich Sammy bekam. Im Grunde selber noch ein Kind. Ich sagte immer, ohne seinen nichtsnutzigen Vater hätten wir es doch so viel besser, aber ich weiß es nicht. Wenn er einen Vater hätte ...« Ihre Stimme verlor sich, und sie sah mich mit einem traurigen Grinsen an. »Ich werde allmählich ein bisschen verrückt, was?« »Es ist schon okay.«
»Es tut mir Leid, Joe. Ich wollte das alles nicht bei dir abladen. Es ist nur - ich weiß nicht. Ich bin so frustriert.«
In diesem Augenblick begriff ich etwas Neues an Lucy. Bis sie Sammy zur Welt gebracht hatte, war sie auf dem Wind ihres guten Aussehens durchs Leben gesegelt. Dann wurde sie geschieden, und ihr Leben wurde von einer neuen Art von Sorgen erfüllt, die von ihrer Schönheit im Wesentlichen unberührt blieben. Sie schien sich nicht im Stande zu fühlen, Sammy zu helfen, und verachtete sich dafür, dass sie so empfand.
»Es ist schon okay«, sagte ich noch einmal. »Ich wünschte nur, ich könnte mehr tun, um ihm. zu helfen.«
»Hör einfach nicht auf,
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