Stadtfeind Nr.1
können?«
Dann taucht Wayne auf, und er sieht schockierend gesund aus in seiner Cougarsjacke und der geliehenen Anzughose, die es schaffen, seine ausgemergelte Gestalt ein wenig zu verbergen. Er umarmt mich leicht, und wir grinsen über meinen eigenen geliehenen Anzug, als seien tatsächlich noch mehr Beweise für unseren Außenseiterstatus nötig. »Du auch?«, sage ich und deute auf seine Jacke.
»Ich hatte schon immer eine Schwäche für Tradition«, sagt Wayne grinsend. »Natürlich, es sei denn, es betrifft den Lebensstil.« Ich mache ihn mit Owen bekannt, der zur Begrüßung nickt und ihn plötzlich und theatralisch umarmt, während Wayne ihm amüsiert und überrascht auf den Rücken klopft.
Carly trifft ein, als die letzten Gäste zum Gottesdienst in die Kapelle strömen, und mir wird bewusst, dass ich gewartet habe, um zu sehen, ob sie kommen würde. Sie kommt herüber und gibt mir einen leichten Kuss auf die Wange. Ich hatte auf etwas ein bisschen Dramatischeres gehofft: eine anhaltende Umarmung, ein paar Tränen vielleicht. »Es tut mir so leid, Joe«, sagt sie. Sie trägt einen eleganten schwarzen Hosenanzug mit einer weißen Bluse, die am Hals offen ist und ein kleines, Dreieck aus weißem Fleisch und die feinen Konturen ihrer Schlüsselbeine erkennen lässt.
»Danke fürs Kommen«, sage ich.
Ich will noch irgendetwas sagen, aber die plötzliche Enge in meiner Kehle macht es unmöglich. Carly drückt meine Hand, die Augen weit aufgerissen und wissend. »Ich werde mich so hinsetzen, dass du mich sehen kannst«, sagt sie. Ich nicke stumm, und sie tritt vor mir durch die Doppeltür in die Kapelle.
Danach ist alles nur noch ein verschwommenes Etwas. Ein Rabbi liest auf Hebräisch ein paar Psalmen, und dann tritt eine Parade von Männern mittleren Alters in ausgeblichenen Cougars-Jacken nacheinander ans Podium, um Arthur Goffman Tribut zu zollen, wobei sie uns in einer Flut von Basketball-Metaphern zu ertränken drohen. Brad spricht als Letzter, teilt das Leben meines Vaters in vier Viertel ein und erläutert seine Beiträge zu jedem einzelnen, und ich will aufspringen und brüllen, dass es doch nur ein verdammtes Spiel ist. Aber als er von der Kanzel abtritt, sieht er verweint und erschöpft aus. Ich weiß, dass er unseren Vater geliebt hat, und für einen Augenblick tut er mir wirklich leid. Und dann mache ich wieder damit weiter, mir selbst Leid zu tun.
Nur eine Hand voll Wagen begleiten uns in der Prozession hinter dem Leichenwagen zum Friedhof, der auf der anderen Seite der Stadt liegt. Dort angekommen, stoßen drei ältere Männer in Cougars-Jacken, Kumpel meines Vaters, zu Brad, Jared und mir, und gemeinsam tragen wir den Sarg ans Grab, neben dem ein riesiger Berg Erde liegt, zusammen mit den verräterischen Spuren des Baggerladers, der das Grab gestern vorbereitet hat. Wir stellen den Sarg auf die beiden Bretter, die quer über dem offenen Grab liegen, und als die Totengräber beginnen, den Sarg hinunterzulassen, merke ich plötzlich, dass ich genau neben dem Grabstein meiner Mutter stehe. Ich wende mich um, um die Inschrift auf dem grauen Marmorstein zu lesen - ELLEN GOFFMAN, 1945-1983, GELIEBTE EHEFRAU, MUTTER UND TOCHTER - und dann bin ich auf den Knien und presse meine Finger in die Vertiefungen der Buchstaben, aus denen sich ihr Name zusammensetzt, und weine hemmungslos, während sie hinter mir den Sarg meines Vaters mit Erde bedecken, und dann knallt irgendetwas gegen meinen Kopf, kalt, glatt und unnachgiebig, der glasierte Marmor des Grabsteins, und vielleicht verliere ich das Bewusstsein, ich bin mir nicht sicher, aber ich spüre deutlich, dass ich getragen werde, zur Abwechslung wird einmal ein Lebender über die verstreuten Gräber getragen, und mein letzter Gedanke ist, dass ich sie noch nie zuvor als seine Frau wahrgenommen habe, und dass das nicht fair war, denn auch er hatte etwas verloren, vielleicht sogar etwas sehr viel Wesentlicheres als ich.
1987
24
Ich benötigte eine Weile, bis ich glauben konnte, dass Wayne nicht wiederkommen würde. Jeden Tag rechnete ich damit, das Telefon abzunehmen und seine Stimme zu hören oder in die Schule zu kommen und ihn zu sehen, wie er in seiner Teamjacke gegen sein Schließfach gelehnt dasteht und mich mit seinem üblichen ironischen Grinsen begrüßt. Ich fuhr täglich an seinem Haus vorbei, verlangsamte mein Tempo und spähte gebannt zwischen den zugezogenen Vorhängen der Fenstern hindurch, als könnte ich dort irgendeinen Hinweis auf
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