Stadtfeind Nr.1
an Ort und Stelle. »Joe«, sagte sie leise, ohne eine Spur von Verwunderung darüber, dass sie mich lauernd auf ihrer Veranda entdeckt hatte.
Ich ging in die Küche und lehnte mich verlegen gegen die Wand, während sie zu mir hochsah, die Augen zu kleinen Schlitzen verquollen und rot vom Weinen. »Mein Sammy hat mich verlassen.« Sie sprach mit hoher, schwankender Stimme, wie ein kleines Kind, das zwischen Schluchzern etwas sagt.
»Ich weiß«, sagte ich.
»Er war alles, was ich hatte«, sagte sie, wobei sie sich unfein mit dem Handrücken den Rotz abwischte, der ihr aus der Nase lief. »Und jetzt weiß ich nicht, was ich tun werde.« Dieser letzte Satz verlor sich in einem langen, schmerzerfüllten Schluchzer, bei dem sie ihr Gesicht in den Händen vergrub. Ich setzte mich zu ihr und legte die Arme um sie, und sie brach an mich gelehnt zusammen, als hätten sich ihre Knochen auf einmal aus ihren Verankerungen gelöst, und ihr Körper drückte sich mit jedem neuen Tränenschwall krampfartig gegen mich. »Jetzt habe ich niemanden mehr.«
Ich wollte ihr sagen, dass sie mich hatte, aber ich wusste, dass das nicht mehr stimmte, also hielt ich sie einfach fest und sagte nichts. So saßen wir eine Weile da, in der Schwebe unserer erbärmlichen, sinnlosen Symmetrie, ein mutterloser Junge und eine kinderlose Mutter, ohne einen Ort, an dem sie zusammenkommen konnten, und ohne irgendetwas von Wert, was sie sich hätten geben können. Als ich sie verließ, empfand ich weder Trauer noch Mitleid, sondern nur eine aufkeimende Wut über meine erbärmliche Wertlosigkeit und eine wachsende Gewissheit, dass die Zeit für mich gekommen war, schleunigst aus Falls zu verschwinden.
Sie hatten Sammys Leiche am frühen Morgen aus dem Bush River gezogen. Sein Wagen wurde im Wald in der Nähe der Wasserfälle gefunden, und obwohl nie irgendwelche Berichte über die Umstände seines Todes veröffentlicht wurden, konnte ich mir lebhaft im Detail vorstellen, was sich zugetragen hatte. Etwa zu der Zeit, als Carly und ich den Sex-Marathon in meinem Zimmer beendeten, fuhr Sammy mit seinem Wagen zu den Wasserfällen hoch und parkte. Während sich rings um ihn überall Pärchen in geparkten Wagen unbeholfen befummelten und streichelten, schob Sammy ein bisschen Springsteen in sein Kassettendeck, spielte vielleicht sogar »Bobby Jean« in demselben Augenblick, in dem ich den Song in meinem Zimmer hörte, und trank genug Bier, um den Folgen seines Vorhabens nicht mehr ins Auge zu blicken. Schließlich stieg er aus seinem Wagen und starrte die Wasserfälle hinunter, und die Kombination aus Nacht und Alkohol verdüsterte das tosende Wasser unter ihm so, dass es ihm nicht mehr übermäßig beängstigend erschien. Dann holte Sammy ein letztes Mal tief Luft und warf sich entschlossen über die Klippe und in die Wasserfälle.
Und vielleicht fühlte es sich in diesem letzten Augenblick gut an, so tollkühn zu sein, diese Entscheidung getroffen zu haben. Und in diesem kurzen Augenblick des Fliegens, bevor ihn das tosende Wasser in den dunklen Strudel hinunterzog, fühlte er sich vielleicht endlich frei. Und vielleicht sagte ich mir das auch nur, da ich wusste, wenn ich einfach entschieden hätte, diese Fahrt mit ihm zu unternehmen, anstatt zu Hause zu bleiben, um noch mehr Sex zu haben, dann wäre Sammy nie gesprungen.
Der Rest des Jahres verflog wie ein verschwommener Fleck. Ich ging zur Schule, hing mit Carly herum und machte meinen Abschluss, aber ich durchlebte das alles wie hinter einem Gazeschleier der Distanz, sah alles und spürte nichts davon. Es war, als sei an jenem Tag in Lucys Küche ein Schalter in mir ausgeknipst worden, und ich wurde einen Schritt von meinem eigenen Leben entfernt.
Sean Tallon riss eines Tages einen Witz über Sammy, als er mir im Korridor begegnete, und ich schlug ihm ohne Zögern glatt mit der Faust auf die Nase, was einen erschreckenden Blutschwall verursachte. Er war eher verblüfft als verletzt, aber er kam rasch wieder zu sich und prügelte mich grün und blau und hämmerte mir mit dem abgenutzten Gipsverband seines gebrochenen Arms auf den Schädel, während Mouse zusah und hysterisch gackerte. Ich begutachtete meine blauen Flecke mit fast klinischem Interesse im Spiegel, konnte mich aber nicht erinnern, irgendwelche Schmerzen verspürt zu haben.
Seans gebrochener Arm, zusammen mit Waynes Verschwinden, sorgte dafür, dass das Basketballteam praktisch verkrüppelt war. Sie wurden in der ersten Runde mühelos aus
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