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Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten

Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten

Titel: Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
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als Vincent in seinem Badezimmer in der Oak Street stand und seine bernsteinfarbene Mähne auseinanderzupfte, damit sein fehlendes Ohr nicht allzusehr auffiel.
    Wenn man schon nicht der erste sein konnte, dann blieb einem wenigstens das bittersüße und edle Gefühl, der letzte zu sein. Der Letzte Mohikaner. Das Letzte Abendmahl. Der Letzte Hippie!
    Diese Überlegungen hatte Vincent einmal seiner Alten vorgetragen, und zwar nur wenige Stunden, bevor sie sich nach Israel aufgemacht hatte, um dort in die Armee einzutreten, doch Laurel hatte ihn bloß verspottet. »Dafür ist es zu spät«, hatte sie gesagt und auf der einen Seite seine Haare hochgehoben. »Du bist nur noch sieben Achtel des Letzten Hippies.«
     
    Sie war nicht immer so gewesen.
    Während des Kriegs hatte sie einen völlig anderen Drive gehabt. Sie war vom Sternzeichen Jungfrau und damit ein analer Charakter, hatte aber beides in eine positive Richtung gelenkt.
    Astralreisen. Kerzengießen. Makramee.
    Doch post bellum hatte sich die Situation verschärft. Laurel besuchte damals einen Selbstverteidigungskurs für Frauen und probierte ihre Griffe an ihm aus, wenn er sein Mantra aufsagte. Obwohl sich ihre Ausbilder bei einem vierzigtägigen Intensivkurs in Arica sehr ins Zeug legten, war sie auf einmal besessen vom Rolfing.
    Aber nicht als Patientin. Als Therapeutin.
    Diese verheißungsvolle Karriere fand ein abruptes Ende, als ein Zahnarzt aus dem Marin County drohte, sie wegen tätlicher Beleidigung einsperren zu lassen.
    »Der hatte doch ’ne Paranoia«, meinte sie hinterher.
    »Er hat gesagt, daß du voll drauf eingestiegen bist«, entgegnete Vincent gelassen.
    »Natürlich bin ich voll drauf eingestiegen! Es gehört zu meinem Job, daß ich das tue!«
    »Er hat behauptet, daß du so einiges gesagt hast, während du ihn gerolft hast.«
    »Was soll ich denn gesagt haben, hm?«
    »Lassen wir das lieber, Laurel.«
    »Was soll ich gesagt haben?«
    »›Du Bürgerschwein!‹ zum Beispiel oder ›Du gehörst an die Wand gestellt!‹«
    »Das ist gelogen!«
    »Na ja, er hat behauptet, daß …«
    »Jetzt hör mir mal zu, Vincent! Wem glaubst du denn eigentlich? Mir oder so einem beschissenen paranoiden Bürgerschwein?«
     
    Jetzt war sie aber nicht mehr da. Sie hatte Amerika für immer verlassen.
    Dieses Amerika, das sie immer mit einem k geschrieben hatte, nie mit einem c.
    Schon der Gedanke an diese Eigenart trieb ihm die Tränen in die Augen, und er klammerte sich in seiner Verzweiflung an die letzten Überbleibsel aus ihrem gemeinsamen Leben.
    Er schlurfte in die Küche und starrte deprimiert auf sein quietschbuntes, fluoreszierendes »Keep on Truckin’« -Poster.
    Laurel hatte es dort aufgehängt. Vor ewigen Zeiten. Es war inzwischen vergilbt und rissig, und der Spruch klang grausam anachronistisch.
    Vincent hatte schon vor langer Zeit aufgehört, frohgemut nach vorn zu schauen.
    Mit der Hand, an der noch alle Finger dran waren, riß er das Poster ab, zerknüllte es und schleuderte es mit einem qualvollen Urschrei quer durch den Raum. Dann stürmte er ins Schlafzimmer und tat Che Guevara und Tania Hearst das gleiche an.
    Der Abschied war längst überfällig.
     
    Vincent kam zu dem Schluß, daß das Switchboard der beste Ort dafür war. Es war so eine Art neutraler Zone. Ein öffentlicher Bereich, der mit ihm und Laurel nichts zu tun hatte.
    Er war um halb acht dort und machte sich mit Wasser aus dem Hahn im Badezimmer eine Tasse Nescafé. Er räumte seinen Schreibtisch auf, leerte die Papierkörbe aus und putzte sein Skalpell mit einem Erfrischungstuch. Mary Ann würde um acht kommen.
    Er hatte genügend Zeit, um die Sache geordnet anzugehen.
    Als er seine letzte Eintragung ins Dienstbuch machte, verspürte er einen Anflug von schlechtem Gewissen gegenüber den gequälten Seelen, die an diesem Abend anrufen und seinen Trost suchen würden.
    Was würde Mary Ann ihnen sagen?
    Und was würde sie tun, wenn sie ihn fand?
    Er gelangte zu der Einsicht, daß das Skalpell unfair war, und zählte die Perlen seiner Fummelkette ein letztes Mal ab. Es mußte einen Weg geben, eine Methode, die sauberer war und den Schrecken für Mary Ann milderte.
    Dann hatte er die richtige Idee.
Neuigkeiten von zu Hause
    Mary Ann schaute noch bei Mona und Michael rein, bevor sie sich zum Crisis Switchboard aufmachte.
    Michael machte ihr mit rotgeweinten Augen auf.
    »Hallo«, sagte er leise. »Willkommen im Heartbreak Hotel.«
    »Hast du Besuch?« Im Schlafzimmer spielte

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