Stadtgeschichten - 03 - Noch mehr Stadtgeschichten
Greyhound-Station. David Norton, einer unserer Tenöre, bekam beim Konzert in Minneapolis Besuch von zwanzig Verwandten. Das gab es überhaupt sehr oft und eigentlich überall – mit vielen Umarmungen und heftigem Geschluchze hinter der Bühne. In Minneapolis lernte ich auch ein altes Paar kennen. Sie sind beide über achtzig und kamen nach dem Konzert in der Halle auf mich zu, um sich zu bedanken. Sie sind Geschwister, er schwul, sie lesbisch, und sie waren den ganzen weiten Weg von ihrer Farm in Wisconsin gefahren, um uns singen zu hören. Sie hatten dichte weiße Haare und unvorstellbare blaue Augen, und ich mußte sofort an den »exzentrischen alten Junggesellen und seine Schwester, die alte Jungfer« denken, die in Orlando in unserer Straße gewohnt hatten. Wir unterhielten uns ungefähr eine Viertelstunde und umarmten uns zum Abschied, als würden wir uns schon ewig kennen. Die alte Frau sagte: »Wissen Sie, als wir so alt waren wie Sie, da haben wir noch nicht mal gewußt, daß es ein Wort gibt für das, was wir sind.«
Tja, wie es im Song heißt: »Other places only make me love you best.« Als nächstes sind New York, Boston, Washington und Seattle dran. Umarmt Mrs. M. ganz lieb von mir. Sagt ihr, daß die Brownies umwerfend waren.
In Eile,
Michael
P.S.: Wie ich aus sicherer Quelle weiß, wird der Chor am Vatertag gegen siebzehn Uhr wieder in San Francisco eintreffen, und zwar an der Ecke 18th und Castro. Wenn Ihr es einrichten könnt, würde ich liebend gern Eure strahlenden Gesichter in der Menge sehen. Brian soll was Enges anziehen. PPS.: Die Männer von Dallas tragen ihre Muskeln wie Federboas.
Seine Wüste macht er wie Eden
Lukes liebste Bibelstelle stammte aus dem Buch Jesaja:
Denn der Herr hat Erbarmen mit dir; er hat Erbarmen mit dir; er hat Erbarmen mit all seinen Trümmern, seine Wüste macht er wie Eden, seine Ode wie den Garten des Herrn.
Prue schrieb die Textstelle in ihr Notizbuch und las sie noch einmal vor. »Wenn ich es mir recht überlege, paßt das doch ganz wunderbar.«
»Was?« fragte Luke und schaute hoch. Er saß auf dem Feldbett und streichelte eines der Backenhörnchen mit dem Zeigefinger.
»Dieses Zitat. Dieser Ort hier. Du hast diesen Flecken zu deinem Garten des Herrn gemacht. Du hast diese Wüste wie Eden gemacht.« Zugegeben, die Rhododendrensenke war nach den Maßstäben der meisten Menschen keine Wüste, aber für Prue kam die Metapher hin.
Luke lächelte gütig. »Du könntest das auch.«
»Was?«
»Deine Wüste in einen Garten verwandeln.«
Prue legte die Stirn in Falten. »Glaubst du, daß ich in einer Wüste lebe?«
Er ließ das Backenhörnchen runter und legte die Hände auf die Knie. »Die Frage mußt du selber beantworten, Prue.«
Es verblüffte sie, ihren Namen ausgesprochen zu hören. Sie war sicher, daß er ihn nie zuvor benutzt hatte. »Du weißt nicht allzuviel über mich«, sagte sie ruhig und versuchte, einen defensiven Ton zu vermeiden. Warum kam sie sich plötzlich vor wie ein aufgespießter Schmetterling?
»Ich weiß so einiges«, sagte er. »Mehr, als du über mich weißt. Ich hab deine Kolumne gelesen, Prue. Ich weiß, was du ein Leben nennst.«
Sie wußte nicht, ob sie sich geschmeichelt fühlen oder empört sein sollte. »Wo?« rief sie. »Wie bist du bloß an …?«
»Wie ist ein Einsiedler bloß an die Western Gentry gekommen?«
»So hab ich’s nicht gemeint, Luke.«
Ihr Dementi schien ihn zu amüsieren. »Und ob du’s so gemeint hast. Du kannst nicht anders. Du bist eine Frau, die materielle Dinge verehrt. Das macht mir nichts, Prue. Jesus hat in seinem Herzen auch für solche Leute Platz gehabt. Warum sollte es dann bei mir anders sein.«
Sie wurde schrecklich rot. »Luke, es tut mir leid, wenn …«
»Setz dich«, sagte er und klopfte neben sich auf das Feldbett. Prue gehorchte, reagierte sofort auf einen Ton, der Erinnerungen an die alten Grass-Valley-Zeiten und ihren Vater heraufbeschwor.
»Es schmerzt mich, wenn ich bedürftige Menschen sehe«, sagte Luke.
Prue fand das schlicht unfair. Bei ihren Forum-Gesprächen ging es oft um Bedürftige. »Nur weil ich Geld habe, heißt das noch nicht, daß ich mit den Armen kein Mitleid hätte.«
»Ich rede nicht von den Armen. Ich rede von dir.«
Schweigen.
»Ich hab noch nie so viel Bedürftigkeit erlebt, Prue.«
»Luke …«
»Du brauchst jemand, der nicht die extravaganten Kleider und das Haus auf dem Nob Hill sieht. Jemand, der sich von dem Mythos, den du mit so viel
Weitere Kostenlose Bücher