Stadtgeschichten - 03 - Noch mehr Stadtgeschichten
den Kopf.
»Und dann … hat er mich vergewaltigt. Die Zwillinge lagen gleich daneben in ihrem Bettchen und schrien die ganze Zeit. Als er endlich ging, beugte er sich über sie, küßte sie ganz zärtlich und sagte: ›Jetzt gehört ihr für immer mir.‹«
»Scheußlich.«
»Er meint es ernst.«
Mary Ann nahm ihre Hand. »Meinte«, sagte sie ruhig.
DeDe wandte sich ab. »Gehen wir was trinken.«
Der Walkman-Mann
Es war später Nachmittag, die Tageszeit, zu der sich der Sonnenschein durch die grünen Stäbchenrollos aus Plastik ins Twin Peaks ergoß und die Gäste wie Fische in einem überfüllten Aquarium aussehen ließ.
Michael saß gegen die Fensterscheibe gelehnt – wie eine Schnecke im Aquarium, fand er, passiv, voyeuristisch, mit seinem ganz eigenen Tempo. Er hatte noch seinen God’s-Green-Earth-Overall an.
Der Mann neben ihm hatte einen Walkman. Als er sah, daß Michael ihn beobachtete, nahm er den Kopfhörer mit den winzigen Lautsprechern ab und hielt ihn Michael hin. »Willst du mal reinhören?«
Michael lächelte erfreut. »Was läuft?«
»Abba.«
Abba? Der Kerl war gebaut wie ein Kleiderschrank, hatte einen monströsen Schnauzer und schimmernde braune Augen. Wie konnte er da dermaßen kitschigen Euro-Pop hören? Andererseits hatte er auch ein Qiana-Hemd an. Vielleicht wußte er es nur nicht besser.
Michael wich der Konfrontation aus. »Eigentlich«, sagte er, »steh ich nicht besonders auf Walkmen. Ich krieg nämlich immer Platzangst. Ich hab’s gern, wenn ich von meiner Musik auch weggehen kann.«
»Bei der Arbeit find ich sie ganz gut«, sagte der Mann. »Wenn viel Schreibkram zu erledigen ist. Ich rauch dann beim Mittagessen einen Joint, komm zurück, setz die Dinger auf und laß mich davontragen.«
»Klar. Ich kann mir schon vorstellen, daß das hilft.«
»Du bist doch im Chor, nicht?« fragte der Mann.
»Mhm.«
»Ich war bei eurer Begrüßung«, sagte der Mann. »Da war ja was los!«
»War das nicht toll?« sagte Michael grinsend. Noch fünf Tage danach spürte er das belebende Prickeln dieses Augenblicks. Mehrere tausend Leute hatten ihre Busse an der Ecke 18th und Castro in Empfang genommen.
»Ich hab gesehen, wie du den Boden geküßt hast«, sagte der Mann.
Michael zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich schätze, ich bin einfach gern hier.«
»Ja … ich auch.« Er fummelte am Walkman herum. Offenbar wußte er nicht weiter. »Abba gefällt dir aber nicht, hm?«
Michael schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, antwortete er so freundlich wie möglich.
»Was für Zeug gefällt dir denn?«
»Na ja … in letzter Zeit macht mich Country-Musik ziemlich an.« Michael lachte. »Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist.«
»Heteromusik«, sagte der Mann.
»Ich weiß. In Orlando … als Kind … hab ich das Zeug gehaßt wie die Pest. Vielleicht ist es bloß die alte Kiste mit den Schwulen, die ihre Unterdrücker nachmachen. Wie die Typen, die am Tag gegen Polizeibrutalität angehen und sich am Abend wie Bullen anziehen.«
Der Mann lächelte matt. »Du hast so was noch nie gemacht, hm?«
»Nie«, sagte Michael. »War das Fettnäpfchen Nummer zwei?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich hab so was auch noch nie gemacht.«
»Na dann … ist dir eigentlich klar, wieviel wir gemeinsam haben?« Michael streckte die Hand aus. »Ich bin Michael Tolliver.«
»Bill Rivera.« Ein Latino, dachte Michael. Das wurde ja immer besser.
»Ich hab einen Freund«, fuhr Michael fort, »der ist immer ins Trench gegangen, wenn dort Uniformabend war, weil er so gern mit Leuten gevögelt hat, die wie Bullen oder Nazis oder Soldaten ausgesehen haben. Einmal ist er mit einem Kerl im Bullenfummel nach Haus gegangen, und da hatte der doch ein unglaubliches Loft in South of Market, mit Neonröhren überm Bett und High-Tech-Zeugs überall … zum Dahinschmelzen! Nur hat mein Freund kein Wort gesagt, denn er sollte ja ein Gefangener sein und der andere ein Bulle, und ein Gefangener sagt nun mal nicht: ›Was für eine tolle Wohnung!‹ zu einem Bullen. Er hat mir erzählt, daß er es kaum ausgehalten hat, bis sie endlich mit dem Sex durch waren, damit er den Typen fragen konnte, wo er seine Punktstrahler her hat. Ich glaub nicht, daß ich so viel Selbstdisziplin habe. Ich will gleich vom Fleck weg sagen können: ›Was für eine tolle Wohnung!‹ Ist das zuviel verlangt?«
Der mächtige Schnurrbart stellte sich auf, als der andere lächelte. »Bei meiner Wohnung schon.«
Michael lachte.
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