Stadtgeschichten - 03 - Noch mehr Stadtgeschichten
ist endlich an den Richtigen geraten.«
»Das glaub ich auch«, sagte die Vermieterin. »Dabei bin ich ehrlich gesagt etwas überrascht.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht genau. Ich hab bloß so ein Gefühl im Bauch, daß sie irgendwas vorhat. Sie kommt mir in letzter Zeit so abwesend vor. Daß sie sich ums Heiraten Gedanken macht, hätt ich am allerwenigsten erwartet.«
»Und was«, fragte die Vermieterin, als sie sich zum Essen setzten, »hat unser Rumtreiber in der letzten Zeit so erlebt?«
Michael tat so, als würde der Marmeladentopf seine gesamte Aufmerksamkeit fordern. »Ach … eigentlich kaum was.« Er wußte, daß ihre Frage seinem Liebesleben galt, doch er war nicht in der Stimmung, darüber zu reden. »Ich glaub, ich hab wieder mal einen zölibatären Anfall. Ich bin viel zu Hause und seh fern.«
»Und wie ist das?«
»Was?«
Die Vermieterin schnippte sich einen Krümel aus dem Mundwinkel. »Das Fernsehen.«
Michael lachte. »Meine Lieblingssendung war diese Woche eine Reportage über Beschneidung.«
»Tatsächlich?« Mrs. Madrigal butterte sich noch ein Stück Toast.
»Die war zum Schreien«, sagte Michael. »Es wurde ein Beschneidungsspezialist interviewt, der Don Wong heißt.«
»Nein!«
Michael hob die Hand zum Schwur. »Ich schwöre bei Gott.«
»Und was hatte er zu sagen?«
Michael zuckte mit den Schultern. »Bloß, daß es heutzutage keinen akzeptablen Grund mehr gibt, kleine Jungs gleich nach der Geburt zu verstümmeln. Mein Gott. Wie lang brauchen die Leute, bis sie mal was schnallen? Meine Mutter ist nun wirklich nicht die Fortschrittlichste, aber das war ihr schon vor dreißig Jahren klar.«
Mrs. Madrigal lächelte. »Du solltest ihr zum Dank eine kleine Karte schicken.«
»Das Komische ist … daß ich es als Kind nie leiden konnte. Im Duschraum war ich immer der einzige Junge, der nicht beschnitten war, und das ging mir damals total gegen den Strich. Mama hat immer gesagt: ›Gib bloß acht, daß du da unten immer sauber bist, Mikey, dann wirst du mir eines Tages noch sehr dankbar sein. Gott hat dir nichts Falsches mitgegeben.‹«
»Eine kluge Person«, sagte Mrs. Madrigal.
Michael nickte begeistert. »Man hat mich diese Woche zu einer Orgie eingeladen.«
Die Vermieterin setzte ihre Tasse ab.
»Nur für Unbeschnittene.«
Sie sah ihn in gespielter Entgeisterung an.
»Keine Bange«, sagte Michael. »Es war eine Wohltätigkeitsveranstaltung.«
»Ach, wirklich?«
»Für den Chor.«
»Aha.« Mrs. Madrigals ausdrucksloses Gesicht blieb unergründlich. »Ein Vorhautfestival. Wird da am Eingang nachgesehen, oder was?«
Michael lachte. »Ich weiß. Es hört sich ziemlich blöd an. Trotzdem … ich bin froh, daß sich die Einstellung dazu geändert hat. Es gibt absolut keinen Grund, warum man sich an seinen Geschlechtsteilen herumschnippeln lassen sollte.«
Die Vermieterin schaute auf ihre Teetasse hinunter und unterdrückte ein Grinsen, bis Michael eilig nachbesserte: »Es sei denn, man will sich verändern.«
Mrs. Madrigal blickte wieder hoch und zwinkerte ihm zu.
»Noch etwas Kaffee, mein Lieber?«
Der Daddy ist weg
Ein eifrig genutztes Pelzhandelsmonopol hatte Sitka im letzten Jahrhundert zu einem ausgesprochen russischen Erscheinungsbild verholfen: ein russisches Blockhaus, russische Grabzeichen überall, Kosakentänzer, die vor den Touristen auftraten, und sogar eine hübsche russische orthodoxe Kirche in der Stadtmitte.
Prue war vollkommen fasziniert.
»Ist das nicht unglaublich, Luke? Wenn man sich vorstellt, daß das noch Amerika ist!«
Luke jedoch war mit den Waisenkindern beschäftigt. Er kniete vor ihnen auf der Straße und zupfte die kleinen pelzbesetzten Parkas zurecht, die er ihnen eine halbe Stunde zuvor gekauft hatte. Wenn sie die Kapuzen aufsetzten, sahen die Kinder wie kleine Eskimos aus – und schon fast zu putzig, um noch als lebendige Wesen durchzugehen.
»Ist es dafür nicht ein bißchen zu warm?« fragte Prue. »Das Wetter ist hier doch praktisch wie in San Francisco.«
Er blickte zerstreut zu ihr hoch. »Ich kümmer mich gleich um dich.«
Er hatte ihr nicht einmal zugehört. Normalerweise wäre sie vielleicht verärgert gewesen, oder leicht eifersüchtig. Prue konnte Leute nicht ausstehen, die – wie Frannie Halcyon und ihre Freundin Claire zum Beispiel – von Luke so viel Aufmerksamkeit forderten, daß Prues Anteil an seiner Zuwendung kleiner wurde.
Doch mit den Kindern war das etwas anderes. Wenn Prue die beiden mit Luke sah,
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