Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
Vom Netzwerk:
Wein anbieten.«
    »Reizend«, sagte er.
    Mary Ann verschwand in der Küche. Der Lieutenant setzte sich in Richtung Fenster ab und wandte Brian den Rücken zu. »Das muß das Leuchtfeuer von Alcatraz sein«, sagte er. Er hatte offensichtlich nicht vor, das angeschnittene Thema wieder aufzugreifen.
    »Ja, das ist es«, sagte Brian.
    »Es sind aber keine Gefangenen mehr da, oder?«
    »Nein. Der Knast steht leer. Schon seit langem.«
    »Verstehe. Reizender Blick von hier oben.«
    »Ja«, sagte Brian. »Nicht schlecht.«
    Mary Ann brachte ein Tablett mit Weinflasche und Gläsern herein. »Haben Sie schon mal Eye of the Swan getrunken?«
    Der Lieutenant drehte sich zu ihr um. »Nein … kann ich nicht behaupten.«
    »Das ist ein weißer Pinot noir. Sehr trocken.« Sie stellte das Tablett auf den Couchtisch, kniete sich davor und begann mit dem Einschenken.
    »Gläser und alles drum und dran«, murmelte Brian.
    Sie gab ihm ein Glas und ignorierte seine Bemerkung.
    »Also«, flötete sie, als sie dem Lieutenant sein Glas reichte, »Sie haben Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu finden?«
    »Nicht direkt«, sagte er. »Ich habe mir ein Zimmer im Holiday Inn an der Fisherman’s Wharf genommen.«
    Brian und Mary Ann stöhnten unisono.
    Der Lieutenant lachte. »Ja, Sie haben recht. Ich hatte gehofft, was zu finden, das ein bißchen mehr Charakter hat. Ich leg zum Beispiel keinen großen Wert drauf, jeden Tag diese Papierschablone zu entfernen.«
    »Die was?« fragte Mary Ann.
    »Sie wissen schon … auf dem Toilettensitz.«
    »Ach so.« Sie lachte – ein wenig nervös, wie Brian fand. »Wie lange wollen Sie denn bleiben?«
    »Oh … etwa einen Monat. Ich will kurz nach Ostern wieder nach London zurück.«
    Mary Ann furchte die Stirn. »Da wird es ein bißchen schwierig werden, was zu mieten.«
    »Eigentlich«, sagte der Lieutenant, »hatte ich eher auf einen Tausch gehofft.«
    »Einen Tausch?«
    »Meine Wohnung in London gegen eine Wohnung hier. Ließe sich so etwas arrangieren?«
    Mary Ann war schon ganz in Gedanken.
    »Die Wohnung ist klein und ein bißchen runtergekommen«, fügte der Lieutenant hinzu, »aber sie liegt in einer interessanten Gegend und … na ja, könnte für jemanden ein spannendes Abenteuer sein.«
    Mary Ann sah Brian mit blitzenden Augen an. »Denkst du grade dasselbe wie ich?« fragte sie.

Auf zu neuen Ufern
    Neds roter Kastenwagen und seine sieben strapazierten Insassen hatten Sandstürme in Furnace Creek, Schneestürme in South Lake Tahoe und einen Platten in der Nähe von Drytown überstanden, als die zehnstündige Odyssee quer durch Kalifornien zu Ende war.
    Michael kletterte von der Ladefläche herunter, lud sich seinen eingerollten Schlafsack auf die Schulter und stapfte die Stiege zur Barbary Lane hoch. Oben winkte er seinen Gefährten zum Abschied.
    Ned antwortete mit einem Hupen. »Schlaf dich aus«, rief er. Wie ein erfahrener Kfz-Mechaniker, der am Laufgeräusch hören kann, was mit einem Motor nicht in Ordnung ist, wußte er, daß Michaels emotionale Belastbarkeit ziemlich auf Null war.
    Michael gab ihm ein Zeichen – Daumen nach oben – und folgte den Eukalyptusbäumen in den dunklen Großstadtcanyon der Barbary Lane. Auf den letzten Metern seines Heimwegs pfiff er vor sich hin, um Dämonen abzuwehren, die ihm noch immer rätselhaft waren.
    Er stellte sein Gepäck im Schlafzimmer ab und ließ sich ein Bad ein. Eine halbe Stunde räkelte er sich im warmen Wasser und vermißte schon jetzt seine Brüder und die kleine geschützte Enklave, die sie in der Wüste geteilt hatten.
    Nach dem Bad zog er den blauen Flanellpyjama an, den er sich in Chinatown gekauft hatte; dann setzte er sich an den Schreibtisch und begann einen Brief an seine Eltern.
    Die Mondsichel lugte hinter den Wolken hervor, und durchs Fenster drang der warme Klang von Brians Lachen herein, gefolgt vom Lachen eines anderen Mannes – weniger herzhaft als das von Brian, doch ebenso aufrichtig. Michael legte den Füllfederhalter weg und hörte der Unterhaltung zu, bis er mitbekam, daß es sich bei dem Besucher um einen Engländer handelte.
    Boris, der Kater aus der Nachbarschaft, schob sich draußen am Fenster vorbei und suchte nach jemandem, den er für sich interessieren konnte. Als er Michael erspähte, zwängte er sich unter dem hochgeschobenen Fenster durch und machte sich mit einem Laut bemerkbar, der wie das Knarzen eines rostigen Scharniers klang. Michael schwang auf seinem Drehstuhl seitwärts und erwartete den

Weitere Kostenlose Bücher