Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
Männer in Bürokluft über Joan Sutherland, während ein anderes Paar den Sieg der Forty-Niners im Super-Bowl-Endspiel rekapitulierte.
Er fand einen Platz in ausreichender Entfernung von den Unterhaltungen und vertiefte sich in die letzte Ausgabe des Advocate. Die Anzeige eines Schmuckherstellers erregte seine Aufmerksamkeit:
ICH BIN SAFE – DU AUCH?
Das Kennenlernen wird von Tag zu Tag komplizierter. Herpes, Aids … Wenn Sie ein kontaktfreudiger Mensch sind, kann es unbequem und peinlich sein, nach solchen Dingen zu fragen. Jemand interessiert Sie, aber wie sollen Sie ihn wissen lassen, daß Sie »safe« sind? Jetzt können sie es anders signalisieren, indem Sie einfach Ihren SAFE-Ring oder -Anhänger tragen. Der Schmuck »spricht« für Sie. Diese eleganten, mit 14 Karat vergoldeten Ringe und Anhänger sind ein idealer Anknüpfungspunkt, um eine Unterhaltung zu beginnen und das Eis zu brechen. Also lassen Sie sich Ihre Tour nicht vermasseln. Zeigen Sie den anderen, daß Sie safe sind – mit Ihrem SAFE-Ring und -Anhänger.
Das war zuviel. Mit einem verärgerten Knurren warf er die Zeitschrift auf den Boden. Die beiden Forty-Niners-Fans sahen zu ihm her. Mit einem verschämten Grinsen verließ er wortlos den Raum und begab sich auf kürzestem Weg zu seinem geparkten Wagen.
Als er in die Barbary Lane kam, schien zum erstenmal seit Wochen wieder die Sonne. Dünne Dunstschwaden schwebten wie freundliche Gespenster über dem Vorgarten, als er durch das überdachte Tor ging. Er blieb stehen und genoß einen Augenblick den süßen, feuchten Farngeruch, der ihn in der Nase kitzelte.
Er fuhr zusammen, als sich plötzlich hinter einer niedrigen Hecke eine Gestalt aufrichtete.
»Oh … Mrs. Madrigal.«
Die Vermieterin wischte sich die Hände an ihrer blumengemusterten Kittelschürze ab. »Ist es nicht ein herrlicher Tag?«
»Wurde auch Zeit«, sagte Michael.
»Na, na«, meinte sie tadelnd. »Wir wußten doch, daß es kommen mußte. Es war nur eine Frage der Zeit.« Sie sah sich suchend um. »Hast du irgendwo meine Blumenschaufel gesehen.«
Er musterte den Boden und schüttelte den Kopf. »Was pflanzen sie denn?«
»Bubiköpfchen«, antwortete sie. »Wieso gehst du nicht nach London?«
»Also …« Sie hatte ihn mal wieder überrumpelt.
»Schon gut. Ist wahrscheinlich egoistisch von mir. Trotzdem … ich hätte es so aufregend gefunden.« Sie zwirbelte geziert eine Haarsträhne an ihrer Schläfe. »Na ja. Da kann man nichts machen.«
Mrs. Madrigal hatte es in letzter Zeit kaum noch mit der Masche von der hilflosen alten Dame versucht, und Michael mußte unwillkürlich lächeln, als er sie jetzt dabei ertappte. »Ich hoffe, Mary Ann hat Ihnen auch gesagt, daß es eine Frage des Geldes ist.«
»Hat sie, ja.«
»Und?«
»Ich lasse mir nicht so leicht was vormachen wie sie.« Die Vermieterin entdeckte ihre Blumenschaufel und verstaute sie in der Schürzentasche. Dann zog sie einen blaßgelben Pergamentumschlag hervor und drückte ihn Michael in die Hand. »Und damit eliminiere ich deine Ausrede. Du wirst dir schon eine bessere ausdenken müssen.«
Er öffnete den Umschlag und entnahm ihm einen Scheck über tausend Dollar. »Mrs. Madrigal … das ist ja schrecklich nett von Ihnen, aber …«
»Das ist überhaupt nicht nett. Das ist eine eiskalte Investition. Ich beauftrage dich, nach London zu fahren und uns ein paar Geschichten mitzubringen, die uns Freude machen.« Sie machte eine Pause, doch der Blick ihrer großen blauen Augen ließ ihm kein Entkommen. »Wir brauchen das von dir, Michael.«
Dazu wußte er nichts zu sagen.
»Aber das Geld ist gar nicht der wirkliche Grund, hab ich recht?« Sie setzte sich auf die Bank im hinteren Teil des Gartens und bedeutete ihm, er solle sich zu ihr setzen. »Du hast den Verlust von Jon noch nicht verwunden.«
Es war typisch für sie, ihn an den geeigneten Platz zu locken. Als er sich neben sie setzte, war er keine drei Meter entfernt von der Messingtafel, die den Ort markierte, wo die Urne mit Jons Asche vergraben war. »Ich weiß nicht, ob ich das je kann«, sagte er.
»Du mußt«, erwiderte sie. »Was soll er denn noch von dir erfahren?«
»Wie meinen Sie das?«
»Na … wenn er jetzt hier bei uns sitzen könnte … was würdest du ihm noch sagen wollen?«
Er dachte eine Weile nach. »Ich würde ihn fragen, wo er die Schlüssel vom Werkzeugschrank hingetan hat.«
Mrs. Madrigal lächelte. »Was noch?«
»Ich würde ihm sagen, daß es blöd von ihm
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