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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
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unvermeidlichen Satz, mit dem der Kater auf seinem Schoß landen würde. Doch Boris blieb auf Distanz, trabte durchs Zimmer und schlug mit dem Schwanz.
    »Na gut«, sagte Michael, »dann eben nicht.«
    Boris knarzte ihm was.
    »Wie alt bist du eigentlich?«
    Wieder ein Knarzen.
    »Hundertzweiundvierzig? Nicht schlecht.«
    Der getigerte Kater durchkurvte zweimal das Zimmer und sah dann erwartungsvoll zu dem einzigen Menschen hoch, den er finden konnte.
    »Er ist nicht da«, sagte Michael. »Hier gibt’s keinen mehr, der dich verhätschelt.«
    Boris gab ein verwundertes Maunzen von sich.
    »Ich weiß«, sagte Michael. »Aber ich hab keine zarten Häppchen auf Lager. Das war nie mein Job, Alter.«
    Im Flur waren Schritte zu hören. Boris zuckte zusammen und sprang durchs Fenster hinaus.
    »Mouse?« Es war Mary Ann.
    »Die Tür ist offen«, sagte er.
    Sie schlüpfte herein und machte die Tür hinter sich zu. »Ich hab Stimmen gehört. Ich hoffe, ich komme nicht un …«
    »Das war bloß Boris.«
    »Oh.«
    »Ich meine … ich hab mit Boris geredet.«
    Sie lächelte. »Mhm.«
    »Setz dich doch«, sagte er.
    Sie setzte sich auf die Sofakante. »Wir haben einen reizenden Engländer zu Besuch.«
    Er nickte. »Schon gehört.«
    »Ach je … ich hoffe, wir waren nicht zu …«
    »Nein«, versicherte er. »Hört sich nett an.«
    »Er ist von der Britannia. Er war Funkoffizier der Queen.«
    »War?«
    »Na ja … das ist eine lange Geschichte. Die Sache ist die … er braucht für einen Monat ’ne möblierte Wohnung und möchte mit jemand von hier tauschen. Er hat ’ne nette Wohnung in Nottingham Gate … oder so ähnlich. Jedenfalls, die Bude wartet bloß drauf, daß jemand kommt und drin wohnt.«
    »Und?«
    »Na … klingt das nicht ideal?«
    »Du meinst … für mich?«
    »Natürlich! Ned hätte bestimmt nichts dagegen, wenn …«
    »Wir haben einen Monat geschlossen«, sagte er.
    »Na bitte! Das trifft sich doch prima. Es ist der ideale Urlaub.«
    Er schwieg und ließ sich die Sache durch den Kopf gehen.
    »Stell dir vor, Mouse! England! Gott, ich werd ganz kribbelig!«
    »Ja aber … da wäre immer noch das Geldproblem.«
    »Wieso? Du kannst da genauso billig leben wie hier.«
    »Du vergißt das Flugticket«, sagte er.
    Sie ließ plötzlich die Schultern hängen. »Ich hatte gedacht, du wärst begeistert. «
    Sie sah so niedergeschlagen aus, daß er aufstand, zum Sofa ging und ihr einen Kuß auf den Scheitel drückte. »Ich find es nett von dir. Wirklich.«
    Sie schaute mit einem schwachen Lächeln zu ihm hoch. »Kannst du auf ein Glas Wein mit raufkommen?«
    »Nein danke«, antwortete er und zupfte an seiner Schlafanzugjacke. »Ich wollte mich grade in die Falle hauen.«
    Sie stand auf und ging zur Tür. »War’s schön in Death Valley?«
    »Es war … erholsam«, sagte er.
    »Gut. Das freut mich.«
    »Nacht«, sagte er.
    Er machte sich noch eine heiße Milch, dann ging er ins Bett und schlief tief und fest bis zum nächsten Mittag. Nachdem er den Brief an seine Eltern zu Ende geschrieben hatte, fuhr er in die Castro Street, wo er am Gemeinschaftstisch des Welcome Home ein spätes Frühstück zu sich nahm. Als der Regen ein wenig nachließ, schlenderte er die Straße lang und fühlte sich so eigenartig fremd wie ein Tourist auf dem Mars.
    Auf der anderen Straßenseite kam ein Mann aus der Hibernia Bank.
    Michael blieb fast das Herz stehen.
    Der Mann schien unschlüssig. Er schaute nach links und rechts, und sein Gesicht war lange genug im Profil zu sehen, um die flüchtige Illusion zu zerstreuen. Blondes Haar, Chino-Hose und blaues Hemd mit Buttondown-Kragen. Wann würde er endlich aufhören, das mit Jon zu verbinden.
    Er überquerte die Kreuzung und ging die Eighteenth Street lang. In den Tagen vor der Epidemie war in dem Haus neben dem Jaguar Store das Check ’n Cruise gewesen. Dort hatte man die weniger taffen Teile seiner Oberbekleidung in Aufbewahrung gegeben (und erst recht die Einkaufstüten von Gump’s und Wilkes Bashford), ehe man in den Straßen des Ghettos auf die Pirsch ging.
    Das Check ’n Cruise gab es jetzt nicht mehr, und an seiner Stelle florierte der Castro County Club, ein Lesezimmer mit Saftbar für Männer, die Gesellschaft wollten, aber ohne den Alkoholkonsum und die Einstellung, die in Kneipen erwartet wurden. Hier kam er manchmal her, wenn er seine Schicht am Aids-Telefon hinter sich hatte.
    Als er hineinkam, war gerade eine angeregte Partie Scrabble im Gang. An der Bar fachsimpelten zwei

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