Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
Backenknochen. Und der Schlenker nach links ist seine Schädeldecke.«
»Na prima, Mary Ann. Erzähl das mal der Kamera. Wir haben nicht genug Kontrast, sag ich dir. So einfach ist das.«
Sie seufzte und murmelte: »Scheiße.« Mrs. Hernandez, die Entdeckerin der Tortilla, reagierte mit einem Unmutslaut. In Erwartung ihres Fernsehdebüts hatte sich die stattliche Matrone mit dem Spitzenschal und der Mantilla ihrer Großmutter ausstaffiert.
»Verzeihung«, sagte Mary Ann und unterstrich ihre Aufrichtigkeit mit einer leichten Verbeugung.
»Wir könnten es rauskitzeln«, schlug der Kameramann vor.
»Was?«
»Das Gesicht auf der Tortilla. Wir könnten es retuschieren.«
»Nein!« Sie kam sich von Minute zu Minute degenerierter vor. Ihr ewiger Kalauer, daß sie für die »Schundpostille der Mattscheibe« arbeite, kam der Wahrheit näher, als sie je hatte wahrhaben wollen.
»Aber wenn wir erklären …«
»Matthew, laß die Finger von der Tortilla, ja?«
Er hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, schon gut.« Er sah sich in der beengten Küche mit ihren rußgeschwärzten Töpfen und Pfannen um. »Drehen wir’s hier?«
»Sie hat es hier entdeckt, oder nicht?«
»Ja, aber es ist nicht genug Platz für all die Leute.«
»Welche Leute denn?«
»Die ganzen Wallfahrer da vorne im Restaurant. Die wollen alle ins Fernsehen.«
»Na, das geht aber nicht!«
»Fein. Sag du es ihnen.«
Sie stöhnte genervt und ging nach vorn zum Münztelefon, rief Larry Kenan an und schlug vor, die Story zu kippen. Seine Reaktion war knapp und ätzend: »Wenn Sie’s nicht hinkriegen, Gnädigste, setz ich eben Pater Paddy drauf an. Bleiben Sie dort, und rühren Sie diese Tortilla nicht an!«
Eine Dreiviertelstunde später entstieg der Moderator der Fernsehshow Honest to God in vollem Ornat seinem roten Cadillac Eldorado Biarritz, Baujahr 1957. »Liebste!« rief er strahlend, als er Mary Ann sah. »Sie Ärmste! Das ist Ihr erstes Wunder, nicht?«
»Ich bin nicht sicher, ob es die Bezeichnung verdient«, maulte sie.
»Na, na. Mit Wundern ist es wie mit der Schönheit, sag ich immer … es liegt ganz am Betrachter. Wo ist übrigens die Betrachterin?«
»Da hinten.« Sie zeigte über die Köpfe der Menge hinweg. »In der Küche.«
»Na, wunderbar.« Wie eine Luxusjacht glitt der Priester durch die versammelten Fernsehzuschauer, die seinen Anblick mit ehrfürchtigem Gemurmel quittierten. »Die Sache ist die«, sagte er zu Mary Ann, »Wunder sind für die Menschen etwas sehr Gutes. Wir können uns da nicht von ein paar technischen Problemchen aufhalten lassen. Manche Wunder sind natürlich unkomplizierter als andere, aber ich bin sicher, wir kriegen das hin. Ist Ihnen übrigens aufgefallen, daß es immer Jesus oder die Muttergottes ist? Guten Abend, mein Kind. Gott segne dich. Sie sollten eigentlich den Heiligen Geist sehen … er ist schließlich der Sonderbotschafter, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber nie erblickt jemand den Heiligen Geist auf einer Tortilla … Gott segne euch, Gott segne euch … weil niemand die leiseste Ahnung hat, wie der arme Teufel aussieht. Gott, ist das heiß hier drin. Wo ist die Tortilla?«
Als sie in die Küche kamen, benutzte eine ältliche Bekannte von Mrs. Hernandez die Tortilla gerade als Kompresse und drückte sie gegen ihren arthritischen Ellbogen. »Ach herrje«, sagte Pater Paddy. »Ich fürchte, wir haben Ihn verloren.«
Eine rasche Untersuchung der Tortilla ergab den beruhigenden Befund, daß die heiligen Gesichtszüge noch erkennbar waren.
»Auf Tape ist das nicht zu sehen«, sagte der Kameramann.
Pater Paddy sah ihn mit einem wissenden Lächeln an. »Nehmen Sie indirekte Beleuchtung, dann sprechen wir uns wieder.«
»Wie?«
»Tun Sie, was ich sage, Matthew. Der fromme Vater weiß so was am besten.« Er drückte beruhigend Mary Anns Hand. »Keine Angst, Liebste. Jetzt haben wir’s im Griff.«
Er hatte recht, wie sich herausstellte. Die indirekte Beleuchtung unterstrich nicht nur die Farbabstufungen des Teigs, so daß das Antlitz des Herrn hervorgehoben wurde, sondern verlieh der Flade auch einen erbaulichen Heiligenscheineffekt. Als das Bild auf dem Monitor erschien, gaben die dreiundvierzig Mitglieder des Hernandez-Gefolges ein beifälliges Gemurmel von sich.
»Ausgezeichnet«, schnurrte Pater Paddy. »Gute Arbeit, Matthew. Ich wußte, daß Sie’s hinkriegen.«
Der Kameramann lächelte bescheiden und hielt für Mary Ann den Daumen hoch. Doch sie hatte immer noch
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