Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
ging wieder zur Haustür und hämmerte dagegen. Im nächsten Augenblick gesellte sich zu dem Lärm das drohende Poltern von Schritten auf der Treppe – Wilfreds Vater kam herunter.
»Komm, Junge … willste nich mal sehn, wie dein Alter aussieht! Ich weiß, wie du aussiehst. Ich sag dir was, Junge … red wenigstens ’n paar Worte mit mir, dann laß ich dich in Ruh. Eh? Das is das mindeste, was du …« Der Rest ging unter in einem markerschütternden Wutschrei des Aborigine und dem Scheppern der Haustür, die so heftig aufgerissen wurde, daß sie gegen die Wand knallte. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst abfischen!?«
Michael wandte sich an Wilfred und flüsterte, obwohl es jetzt nicht mehr nötig war: »Das ist Wahnsinn. Wir können doch nicht einfach hier sitzen bleiben.«
»Wieso nicht?« gab der Junge zurück. »Ich geh da nicht raus.«
Miss Treves rutschte von ihrem Sessel herunter und näherte sich vorsichtig der Tür. »Mein Güte«, murmelte sie, »das ist ja gräßlich. Können wir denn gar nichts tun?«
Der Krach im Hausflur war fürchterlich – eine Mischung aus animalischem Grunzen und hochgradig erregtem Keuchen. Jemand flog mit solcher Wucht gegen die Wand, daß in Simons Wohnzimmer ein Kupferstich vom Nagel fiel. Das verzweifelte Ringen dauerte fast eine Minute; dann war nur noch ein Mann zu hören, der schwer atmete. Jemand ging aus der Haustür, machte sie hinter sich zu und lief davon. Es war wieder still.
Michael ging zur Tür.
»Warte!« rief Wilfred.
»Wir müssen nachsehen«, sagte Michael.
Miss Treves, die zitternden Hände an der Kehle, sagte nichts.
Michael drückte sein Ohr an die Tür und lauschte. Nichts. Er machte die Tür vorsichtig auf, und man sah im Hausflur einen korpulenten Weißen, der auf dem Rücken lag. Er kniete nieder, um zu sehen, ob der Mann noch atmete. Dann legte er in der Herzgegend sein Ohr auf das durchgeschwitzte Nylonhemd.
»Es ist der Dicke«, sagte Wilfred.
Miss Treves kam angewatschelt. »Er ist nur … bewußtlos, nicht?«
Michael schaute hoch und schüttelte den Kopf.
»Er ist tot?« fragte Wilfred.
Mit einem leisen Stöhnen sank Miss Treves ohnmächtig an den gewölbten Bauch des Toten.
Nach einem Blick zu Wilfred schaute Michael auf das makabre Tableau zu seinen Füßen. Sein Hirn spielte ihm einen perversen Streich und ließ ihn an die letzte Szene in Romeo und Julia denken.
Wilfred kam als erster auf einen vernünftigen Gedanken. »Hast du Riechsalz?«
Michael schüttelte den Kopf. Gab es denn überhaupt noch Riechsalz? Plötzlich kam ihm eine Idee. »Moment«, sagte er, »ich glaube, ich hab was, was vielleicht hilft.« Er rannte ins Badezimmer und kam mit der kleinen Flasche von Boots zurück, die konzentrierten WC-Reiniger enthielt.
Wilfred runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, du … Poppers?«
»Kein Poppers.« Michael kniete nieder, faßte Miss Treves um die Schultern und zog sie ein wenig hoch. Er schraubte die Flasche auf und wedelte ihr mit dem scharfriechenden Zeug unter der Nase herum. Nichts geschah. Er stellte die Flasche auf den Boden. »Wahrscheinlich nicht genug Ammoniak drin. Das ist, als wenn ich sie mit Haarfestiger einsprüh.«
»Ich hol was Nasses«, schlug Wilfred vor und lief los. Er kam mit einem nassen Schwamm aus dem Bad wieder und tupfte der Liliputanerin sachte das Gesicht ab.
Als erstes reagierte die Nase von Miss Treves. Dann zuckte ihr linkes Augenlid. Dann durchlief sie ein leichtes Zittern, und sie kam zu sich. »Gott sei Dank«, murmelte Michael. Er trug sie ins Wohnzimmer zurück und bettete sie vorsichtig auf das Sofa. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich erinnerte, wo sie war. Der Ausdruck von Entsetzen kehrte in ihr Gesicht zurück. »Sind Sie sicher, daß er tot ist?« fragte sie Michael.
»Mhm.«
»Wer war der Kerl, der das getan hat?«
»Wilf … äh, der Mann von oben.«
»Mein Dad«, warf der Junge ein. Mit einem raschen Blick gab er Michael zu verstehen, daß er keine Schonung nötig hatte.
»Sie waren beide betrunken«, sagte Michael. »Es war einfach … Pech.«
Miss Treves nickte gequält. »Bunny hat ein schwaches Herz.« Sie sah hinaus zu dem Toten im Treppenhaus. »Der blöde Kerl … der dumme, blöde Kerl. Ich habe ihm gesagt, er soll es lassen, aber er war ja immer so …« Die Verzweiflung übermannte sie, und ihre Stimme versagte.
»Geht’s jetzt wieder?« fragte Michael.
Sie nickte.
»Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat, Miss Treves, aber ich werde
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