Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
die Polizei verständigen müssen.«
»Nein! Noch nicht … bitte, mein Lieber. Noch nicht.«
»Warum nicht?«
Ihre Hände flatterten wie zwei flügellahme Sperlinge. »Es ist besser, wir reden zuerst. Simon zuliebe. Es wäre nichts gewonnen, wenn wir alles zerstören, was er je …«
Michael machte eine Kopfbewegung zu der Leiche hin. »Ist das Simons Vater?«
Miss Treves schluckte und schaute weg.
»Ist er es?« fragte Michael.
Sie nickte.
»Und er dachte, ich wäre Simon?«
Wieder ein Nicken. »Ich hab dem blöden Kerl gesagt, daß Sie’s nicht sind. Er hat diesen gemeinen Artikel im Mirror gelesen und Sie eines Tages aus dem Haus kommen sehen, und er war überzeugt, Simon wäre aus Kalifornien zurück.«
Jetzt kam Michael überhaupt nicht mehr mit. »Er wußte nicht, wie sein eigener Sohn aussieht?«
»Ähm … du«, sagte Wilfred und zupfte ihn am Ärmel. »Da draußen liegt ein Toter. Das ist jetzt nicht die Zeit für ’n netten kleinen Plausch.«
»Er hat recht«, sagte Miss Treves. »Wir sollten ihn vielleicht hereinholen.«
»Also, Moment mal …«
»Nur für eine Weile, mein Bester. Wir können ihn dann wieder draußen hinlegen.«
»Aber die Polizei wird merken, daß etwas …«
»Nein, wird sie nicht, mein Bester. Seien Sie nur vorsichtig mit Fingerabdrücken. Der Junge wird Ihnen helfen. Nicht wahr, mein Engel?« Sie sah Wilfred mit einem überraschend gewinnenden Lächeln an.
»Na«, sagte der Junge achselzuckend zu Michael, »sie können uns ja nicht verhaften, bloß weil wir ihn von der Stelle bewegt haben, nicht?«
Michael gab nach. Wilfred und er zogen den Toten an den Füßen in die Wohnung. Miss Treves dankte ihnen mit einem erneuten Lächeln und sagte: »Würden Sie ihn bitte zudecken, mein Lieber? Nur für den Augenblick.« Michael zögerte. Dann holte er Simons Daunendecke aus dem Schlafzimmer und drapierte sie über die Leiche.
»So«, sagte er knapp und wandte sich wieder an Miss Treves. »Und was soll ich nun tun?«
Sie schaute auf ihre Hände herunter. »Eigentlich nichts weiter. Nur … Sie dürfen auf keinen Fall erwähnen, was er gesagt hat. Daß er Simons Vater ist.«
Michael sah sie forschend an. »Ich nehme an, Simon weiß gar nichts davon.«
»Nein. Und er darf es auch nicht erfahren. Niemals.«
Er wies auf die Gestalt unter der Daunendecke. »Dieser Kerl … hat Simons Mutter geschwängert?«
»Nein«, sagte das ehemalige Kindermädchen. »Na ja … doch. Technisch gesehen.«
Wilfred kicherte.
Michael achtete nicht darauf. »Und sein Name war …«
»Benbow. Bunny Benbow. Er war der Direktor der Revue, in der ich mal aufgetreten bin. Wir gastierten in einem Hotel auf Malta und trafen dort die Bardills, die gerade auf einer Weltreise waren. Mrs. Bardill interessierte sich für Bunny … was ganz natürlich war, denn wir waren ja alle im Showbusiness. Selbstverständlich war Mrs. Bardill viel berühmter als wir, aber …« Sie schaute fast bedauernd auf den Toten hinunter. »Bunny machte damals eine glänzende Figur.«
»Und heute abend ist er also hergekommen …«
»Um seinen Sohn zu sehen. Unter anderem. Er hatte seine Fehler, aber er war hoffnungslos sentimental. Er wußte, daß die Bardills nicht mehr leben … und da dachte er, er könnte vielleicht … wieder Simons Vater sein.«
»Wieder?« fragte Michael stirnrunzelnd. »Hört sich eher so an, als wäre er es nie gewesen.«
Miss Treves wurde verlegen. »Er wollte auch noch Geld. Nach dem Artikel im Mirror konnte man meinen, Simon wäre sehr reich.«
»Also kommt der Kerl wieder angewalzt nach … was? achtundzwanzig Jahren? Und erwartet, daß Simon ihm das abkauft? Und ihm Geld gibt? Nur weil er damals Simons Mutter geschwängert hat?«
Das Kindermädchen sah weg. Ihre Unterlippe zitterte.
»Miss Treves …«
»Den größten Teil dieser Zeit war er im Zuchthaus. Er hat ein Hotel in Brighton ausgeraubt. Deshalb hat sich die Revuetruppe aufgelöst. Und deshalb bin ich zurück nach London gegangen und habe die Bardills aufgesucht und sie gebeten, mich als Simons Kindermädchen einzustellen.«
Michael starrte sie wortlos an.
»Er hat damals versucht, mit Simon in Kontakt zu kommen«, fuhr sie fort. »Er hat ihm aus dem Zuchthaus geschrieben, aber ich habe die Briefe abgefangen. Er hatte kein Recht, das Leben der Bardills zu verpfuschen. Oder Simons Leben. Wir waren alle so glücklich …«
»Moment mal. Wie konnte er so sicher sein?«
»Wegen was?«
»Daß er Simons Vater ist.«
Sie sah
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