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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
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Landschaft sehen.«
    »Fährst du allein?«
    »Ich weiß noch nicht.«
    »Komm schon, Mouse …«
    »Ich fahr vielleicht mit einem Freund.«
    Sie hörte im Hintergrund einen Juchzer. »Ähm, Mouse … wer war das denn?«
    »Na wer schon? Der Freund.«
    »Der grade erfahren hat, daß er mit darf, hm?«
    »Richtig.«
    »Es scheint ihn zu freuen.« Er schien sogar begeistert zu sein – das Juchzen hielt noch an. »Wie alt ist er?«
    »Im Moment ist er elf. Wilfred, geh da runter!«
    »Wilfred, hm? Britischer geht’s kaum noch. Er ist doch nicht wirklich elf?«
    »Nein.«
    Sie wartete auf nähere Angaben. Als keine kamen, sagte sie: »Ist das alles, was ich erfahre?«
    »Das ist alles. Bis ich nach Hause komme.«
    »Ist der Tisch da drüben reichlich gedeckt?«
    »Ziemlich. Eigentlich mehr als reichlich. Ich bin nicht sicher, ob du mir’s glauben wirst.«
    »Zum Beispiel?«
    »Wenn ich nach Hause komme, Schatz.«
    »Spielverderber«, schmollte sie.

Ausgefuchst
    Der Karfreitag war grau und regnerisch. Michael stand in der Paddington Station auf dem Bahnsteig und sah gebannt auf die eingerußten silbrigglänzenden Züge, die donnernd in die verglaste Höhle des Bahnhofs einfuhren. Überall drängten sich abgehetzte Londoner, die entschlossen waren, das Osterfest woanders zu verbringen.
    Er schaute auf die Uhr. Vier Minuten vor zwölf. Der Zug nach Oxford fuhr in siebzehn Minuten. Er stellte den Koffer ab und musterte die Fahrgäste auf Bahnsteig vier. Wilfred war eindeutig nicht darunter.
    Sie hatten sich vorsichtshalber für halb zwölf verabredet. Der Junge war also schon fast eine halbe Stunde verspätet. Wenn sie diesen Zug verpaßten, würden sie in Oxford keinen Anschluß mehr bekommen. Er tadelte sich, weil er dem Jungen vertraut hatte, als der in letzter Minute »schnell noch was erledigen« wollte.
    Na schön. Nur nicht aufregen. Er schleppte seinen Koffer zum Zeitungsstand und vertiefte sich in die knalligen Schlagzeilen der Boulevardblätter. Eine lautete: RANDY ANDY ZEIGT ALLES. Dazu gab es ein enttäuschendes, mit Teleobjektiv aufgenommenes Foto von Prinz Andrew in Badehose. Und über einem Bild des Pornostars, mit dem der Prinz derzeit liiert war, stand in dicken Lettern: KUH D’ETAT.
    Er kaufte sich einen Apfel und sah noch einmal nach der Zeit. Noch zehn Minuten. Was, zum Kuckuck, war bloß los? Hatte Wilfred es sich anders überlegt? Oder ihn falsch verstanden? War etwa Wilfreds Vater zurückgekommen?
    Diese Vorstellung war so schauderlich, daß er gar nicht daran denken wollte. Er ging wieder zum Bahnsteig, wo der Zug inzwischen eingetroffen war. Zunehmend gereizt ging er an den Waggons entlang. Wehe, er hat keinen ernsthaften Grund, dachte er. Aber hoffentlich ist es nicht zu ernst. In dieser Ungewißheit konnte er nicht fahren. Er mußte die Reise einfach sein lassen.
    »Entschuldigen Sie«, wandte er sich an einen Schaffner. »Ich versuche, nach Moreton-in-Marsh zu kommen.«
    »Da sind Sie richtig. Das ist Ihr Zug. In Oxford umsteigen.«
    »Ich weiß, aber wenn ich den Zug nicht nehme …«
    »Dann kommen Sie heute nicht mehr nach Moreton-in-Marsh. Erst morgen wieder.«
    »Mist.«
    »Sie warten noch auf jemand?«
    »Ich habe gewartet, ja. Vielen Dank.« Mißmutig und zutiefst enttäuscht wandte er sich zum Gehen. Dann blieb er wie angewurzelt stehen, denn in der Menge tauchte ein bronzefarbener Wuschelkopf auf. Wilfred drängte sich zu ihm durch.
    »Da bist du ja endlich.«
    Der Junge machte ein angemessen schuldbewußtes Gesicht. »Tut mir leid, Mann.« Er trug Jeans und einen knallgelben ärmellosen Pulli mit passender Fliege. Unter dem einen Arm hatte er eine Reisetasche aus Segeltuch und unter dem anderen eine große Pappschachtel.
    Michael verkniff sich eine Standpauke. »Du, wir wollen nirgends einwandern«, meinte er grinsend.
    Wilfred nahm sich nicht die Zeit für eine Antwort. Er stieg in den Zug und ging durch die Waggons, bis er einen fand, der nur schwach besetzt war. »Wie wär’s hier?« fragte er.
    »Gut.«
    Der Junge setzte sich auf einen Fensterplatz und verstaute seine Reisetasche unter dem Sitz. Den Karton behielt er auf dem Schoß. »Es hat länger gedauert, als ich dachte«, sagte er.
    »Was denn?«
    Wilfred lächelte geheimnisvoll und tätschelte die Seitenwand des Kartons.
    Michael besah sich die Pappschachtel. Sie war mit Klebeband umwickelt, und der Deckel hatte vier oder fünf kleine Luftlöcher. Jetzt dämmerte es ihm. »Herrgott, Wilfred … wenn es das ist, was ich

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