Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
denke …«
»Nicht so laut, Mann.«
»Die werfen uns aus dem Zug.«
»Nein, tun sie nicht.«
»Es gibt garantiert eine … Bestimmung gegen so was.«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Du kannst doch gut mit der Polente.«
Michael starrte ihn fassungslos an und schaute wieder auf den Karton. »Bist du sicher, daß er da nicht raus kann?«
Der Junge nickte.
»Und wenn er sich durchnagt?«
»Das versucht er gar nicht, Mann. Er ist vollgedröhnt.«
»Was?«
»Ich hab ihm ein bißchen Haschisch ins Fressen getan.«
Der Zug fuhr mit einem Ruck an, und im gleichen Augenblick kam ein Schaffner in den Waggon. Wilfred beugte sich vor und verschränkte die Arme auf dem Karton. Dann fiel ihm seine Fahrkarte ein. Er zog sie aus der Gesäßtasche, gab sie Michael und beugte sich rasch wieder über den Karton.
Der Schaffner baute sich vor ihnen auf. »Wo geht’s hin, die Herrn?«
»Moreton-in-Marsh«, antwortete Michael und händigte ihm die Fahrkarten aus.
»Reizendes Dörfchen. Im Herzen Englands.«
»Ja, das haben wir auch gehört«, sagte Michael mit einem Lächeln, dem man bestimmt anmerkte, daß es gezwungen war. »Eigentlich wollen wir in einen Ort in der Nähe. Easley-on-Fen.«
Der Schaffner streifte Wilfred mit einem Seitenblick und sagte: »Osterurlaub, was?«
»Richtig.« Wieder ein gequältes Lächeln.
»Dann wünsch ich schöne Tage.«
»Danke«, sagten beide gleichzeitig.
Der Schaffner trollte sich.
Michael nahm den Jungen ins Visier. »Spinnst du?«
»Nö, kein bißchen.«
»Was sollen wir denn mit ihm machen?«
»Einfach laufenlassen«, meinte Wilfred schulterzuckend.
»Und wo?«
»Was weiß ich. In Gloucestershire. Irgendwo.«
»Na toll«, murmelte Michael. »Born Free. «
»Was?« meinte der Junge naserümpfend.
»Ein Film. Vor deiner Zeit. Und gib mir nicht dauernd das Gefühl, als wär ich uralt. Sag mal, was ist, wenn der olle Bingo da …«
»Dingo.«
»Dingo. Was ist, wenn seine Dröhnung verfliegt, eh wir in die freie Wildbahn kommen?«
Wilfred warf ihm einen Blick zu und sagte patzig: »Na, da können wir jetzt auch nichts dran ändern, oder?«
Darauf wußte Michael keine Antwort.
»Entspann dich, Mann. Da … sieh raus. Unser liebliches, grünes Land. Das soll ’n Ausflug sein … falls du dich erinnerst.«
Michael verdrehte die Augen, lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster. Sie waren inzwischen in den Außenbezirken, und eine endlose Reihe von Hinterhöfen glitt im Regen vorüber. Dann kamen verrußte Art-déco-Fabrikgebäude, Schrottplätze und Tankstellen im nachgemachten Tudorstil – alles düster hingeduckt unter einem flanellgrauen Himmel.
»Es klart schon auf«, sagte Wilfred.
Michael warf ihm einen genervten Blick zu und schaute wieder hinaus. »Wann wird es denn mal idyllisch?«
Der Junge schnaubte verächtlich. »Ihr Amis und eure doofen Idyllen.« Nach einer Pause fragte er: »Wo wollen wir in Gloucestershire übernachten?«
»Ach … in einer Pension, würde ich sagen. Wir nehmen es einfach, wie’s kommt.« Irgendwie fand er Gefallen an dieser Vorstellung. »Irgendwelche Vorschläge?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich war noch nie da.«
»Wir müssen uns vielleicht ein Auto mieten. Je nachdem, wie weit es zu dieser Adresse ist.«
»Mhm.«
»Was ist mit deinem Vater?«
»Wieso?«
»Was machst du, wenn er nicht mehr wiederkommt?«
Wilfred tat die Frage mit einem trockenen Lachen ab. »Das gleiche wie vorher, Mann.«
Die Landschaft wurde hügelig und zunehmend grüner. Der Zug hielt an vier oder fünf putzigen Stationen, ehe er Oxford erreichte, wo sie ausstiegen und auf ihren Anschlußzug warteten. In der Snackbar am Bahnhof bestellten sie sich Kaffee und Gebäck, während ein prasselnder Platzregen die liebevoll gehegten Blumenrabatten neben dem Bahnsteig verwüstete.
Den letzten Teil der Reise begannen sie schweigend, während der Zug durch die verregnete Landschaft zuckelte. Dingo hatte angefangen, sich zu regen, aber noch so zurückhaltend, daß es niemandem auffallen konnte. Ab und zu redete Wilfred beruhigend auf ihn ein und stopfte ihm Stücke von einem Schinkensandwich durch die Luftlöcher, und der Fuchs schlang sie dankbar schmatzend hinunter.
»Was hat dein Lover gemacht?« fragte der Junge nach einer Weile.
Michael schaute von seinem Cotswold-Reiseführer hoch. »Du meinst beruflich?«
Wilfred nickte.
»Er war Arzt. Auf einem Passagierdampfer.« Er lächelte versonnen. »Als ich ihn kennenlernte, praktizierte er
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