Stadtluft Macht Frei
gerade für die Ewigkeit. In der Stadt Göttingen im heutigen Bundesland Niedersachsen stürzte im Winter 1529 – also schon in der Frühen Neuzeit – ein großes Stück der Stadtmauer in den Wassergraben. Wie berichtet wird, blieb es den Winter und den kompletten Sommer darauf einfach drin liegen, ohne dass sich jemand darum kümmerte.
In der reich bebilderten hessischen Landeschronik des Wigand Gerstenberg von Frankenberg (entstanden um 1493/97) gibt ein Bild eine Stadt nicht nur typologisch – das heißt wie eine Stadt an sich –, sondern wirklich individuell, als echte, real existierende Stadt wieder. Es ist die Stadt Erfurt in Thüringen, für die eine erste Stadtmauer bereits 1066 belegt ist; ihr genauer Verlauf ist unbekannt, doch sie muss bereits große Teile der Stadt umfasst haben. Offensichtlich muss der Künstler, der mit der bildlichen Ausschmückung der Chronik betraut wurde, mit der Stadt Erfurt sehr vertraut gewesen sein. Er wusste genau, wie sie aussah. Er kannte ihre Plätze und Kirchen, ihre großen Häuser und Tore. Nur so konnte diese Illustration entstehen. Im Vordergrund des Bildes sieht man, wie zwei Bauarbeiter auf einem Gerüst stehen und emsig damit beschäftigt sind, die Stadtmauer – oder zumindest Teile davon – hochzuziehen. Ein gigantisches Projekt, eingefangen in einer Momentaufnahme des späten Mittelalters.
Die Mauer der mittelalterlichen Stadt – sie war das sichtbarste Zeichen der Unterscheidung von Stadt und Land im Mittelalter. Schon von weitem war sie zu erkennen. Wie ein Riegel schob sie sich zwischen zwei Welten. Aber man darf sich nicht täuschen lassen! Die scharfe Trennlinie zwischen Stadt und Land, die im wirtschaftlichen Bereich ohnehin nicht bestand, denn beides gehörte unauflösbar zusammen, |93| sie wurde in vielen Fällen abgemildert, ja aufgehoben durch etwas, was mit der Befestigung einer Stadt in enger Verbindung stand: die Landwehr.
Die Landwehr
Schon bevor man eines der Stadttore durchquerte, hatte man dort, wo der Wald aufhörte, in der Regel eine breite Zone durchschritten, die zum Einflussbereich der jeweiligen Stadt gehörte und städtisch bestimmt war. Sichtbares Zeichen, dass man jetzt der Stadt ganz nahe war, war eben diese Landwehr, ein aus Gräben, Hecken, manchmal auch Palisaden bestehender Befestigungsring – sozusagen die Mauer vor der Mauer. Die Landwehr hatte keineswegs nur symbolische Bedeutung, sie hatte eine wichtige Funktion: Sie schützte das Vieh und Pferde, die auf den Weiden grasten, die zur Stadt gehörten. Gerade Vieh und Pferde waren – wurde eine Stadt von einer benachbarten Macht angegriffen – immer eine beliebte Beute. Als zum Beispiel im Sommer 1485 Herzog Georg von Bayern-Landshut die Stadt Nördlingen belagerte, wurde von den bayerischen Truppen systematisch das Getreide um die Stadt vernichtet und das Vieh weggetrieben – und das war beileibe kein Einzelfall. Die Berichte aus dem Mittelalter sind voll davon. Die Folgen eines „Viehraubs“ konnten schlimm sein. Monatelanger Hunger der Stadtbevölkerung war keine Seltenheit.
Zwischen Landwehr und Stadtmauer gab es schon die ersten Behausungen, auch kleinere Siedlungen. Es gab hier die Spitäler der Leprakranken, die man aus verständlichen Gründen nicht in der Stadt haben wollte. Hier knatterten die Mühlen, sei es zum Mahlen des Getreides, um die Städter mit Brot zu versorgen, oder schon – wie die legendäre Produktionsstätte des Nürnbergers Ulman Stromer – zum Zerstampfen von Lumpenhadern und somit zur Herstellung von Papier. Hier standen oftmals aber auch die Galgen, die Hinrichtungsstätten der zum Tode Verurteilten. Hier lag der Schindanger, die letzte Ruhestätte derer, denen ein normales christliches Begräbnis auf den Friedhöfen der Stadt verwehrt blieb. Seltener, aber auch das gab es, |94| fanden sich in diesem Bereich kleinere Landschlösser, zum militärischen Schutz der Stadt oder als Sitz des Stadtadels.
Doch eine Landwehr war eben nur eine Landwehr und eine Mauer war – eine Mauer. Auf sie kam im Zweifelsfall alles an. Wurde sie durchbrochen, war die Katastrophe da. Es lohnte, in sie zu investieren. Je nach Größe der Stadt und der Fläche, die zu umziehen war, benötigte der Bau einer Stadtmauer Jahre, ja Jahrzehnte.
Ein Jahrhundertwerk –
Die römische Stadtmauer von Köln
Ein Jahrhundertwerk war die Mauer von Köln. Köln besaß eine steinerne Stadtmauer bereits in der Römerzeit. Die römische Stadtmauer wurde wohl zwischen dem
Weitere Kostenlose Bücher