Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
August und September 2010. Fremdenhass ist nach Wnendts Ansicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen, dabei habe das mit der Realität der jungen Dorfbewohner nichts zu tun. Die Zahl der Ausländer sei dort gering. »Wenn diese Jugendlichen nach Berlin fahren, ist das für sie Sodom und Gomorrha. Auch deren Eltern denken so«, sagte er der Frankfurter Rundschau .
Im Ruhrgebiet
Wie sieht es denn aus in diesem »Sodomundgomorrha«? Etwa im Ruhrgebiet? Das Revier kennt sich aus mit Migration. Schon vor hundert Jahren zogen Gruben und Schächte polnische Bergleute an. Das Ruhrgebiet heute: 4435 Quadratkilometer, 15 große Städte, fünf Millionen Einwohner, eine Metropolregion.
Ich fahre hin. Im Zug lese ich Frank Goosens Radio Heimat . Laut Goosen, aufgewachsen in Bochum, ist das Ruhrgebiet Schmelztiegel unterschiedlichster Nationalitäten, seit polnische Bergarbeiter hierherzogen. Die kamen, weil das Ruhrgebiet sie brauchte, weil die Industrialisierung ohne zusätzliche Arbeitskräfte nicht vom Fleck gekommen wäre. »Dem Klischee nach stammen wir ja alle von polnischen Püttadligen ab.« Man kennt sich hier aus mit Einwanderern. Wobei die Ruhrpolen streng genommen keine Einwanderer waren, wie Konrad Lischka und Frank Patalong, zwei weitere Autoren aus dem Pott, in ihrem Buch Dat Schönste am Wein ist dat Pilsken danach präzisieren, denn all die Podolskis und Janowskis »hatten dieselbe Staatsangehörigkeit«. Gut drei, vier Generationen ist das her, und heute sagen die Ruhris – etwa ein offizieller Stadtführer beim Rundgang durch Duisburg –, mit denen habe das natürlich besser geklappt mit der Eingliederung. Aber ganz so ohne Weiteres ging es auch vor hundert Jahren nicht vonstatten – die Polen wurden geradezu zwangsintegriert. Polen gehörte damals zum Deutschen Reich. Dann sollten aber die Neubürger gefälligst auch deutsche Namen tragen: 1901 wies der Innenminister des Deutschen Reichs die Verwaltung an, »Namen wie Cybulski großzügig einzudeutschen, zwecks ›Verschmelzung des polnischen Elements mit dem deutschen‹. Daher kommen die Schimanskis und vielleicht sogar ein paar Mayers, die einmal Majczak hießen.«
Wer heute aus Achmed einen Achim und aus Ayse eine Anja machen wollte, würde wohl Schwierigkeiten bekommen, doch Buchautor Lischka findet diese Namenstaufen gar nicht so verwerflich. Dass aus Pawel Paul wurde, »zeigt eine im Ruhrgebiet zu beobachtende Art des Umgangs mit anderen: Es ist eher Ignoranz als Integration, wobei Ignoranz ein zu hartes Wort ist. Man schaut nicht so genau hin, was anders ist an den Zugezogenen. Aus Polen? Aus Italien? Macht ja nix. Und weiter.« Diese »gar nicht böswillige Mischung aus Desinteresse und Gleichmacherei gegenüber Neuem« sei typisch für das Ruhrgebiet, so die beiden Autoren.
Ruhrpott kuschlig: die Rü
Vielleicht ist es gerade das, was auch Ange-Camea Robinson, 25, gefällt. Die Studentin der Politischen Wissenschaften jobbt in einem kleinen Laden auf der Rü in Essen. Für Nicht-Ruhrpottler: Die Rü(ttenscheider Straße) ist die Wohlfühlstraße im Ruhrgebiet. Im südlichen Essen reiht sich hier ein Café ans nächste Restaurant, man speist von Sushi bis Spaghetti, von Kebab bis Kroketten. Dazwischen gibt es Einzelhandelsläden, keine Filialen großer Ketten. Man kann sich bei Siam-Beauty eine traditionelle Thai-Massage (keine Erotikmassage! steht mit Ausrufezeichen am Fenster) andienen lassen oder brazilian bodywaxing gleich nebenan, sich zu Voodoo informieren im Museum Soul of Africa oder eben in kleinen Shops stöbern. Ange-Cameas Mutter kommt aus Namibia, ihr Vater ist Deutscher, sie ist in einem Dorf in Deutschland aufgewachsen, hat zehn Jahre in Moers gelebt, »und jetzt bin ich seit fünf Jahren in Essen, und hier bin ich sehr gerne«, sagt sie.
Es sei zwar toll gewesen als Kind auf dem Dorf, das Draußensein, die vielen Tiere. »Aber meine Mutter hat andauernd Probleme bekommen. Dort lebten sonst keine Schwarzen, und irgendjemand hatte immer irgendwas zu meckern.« Als Kind habe sie das nicht so kapiert, erst heute. Sie liebt die Rü. »Hier leben alte Damen, die Pelzmäntel tragen, und Studenten, ein paar Ausländer, aber nicht so viele. Es ist dörflich – aber mit der großen Stadt hintendran!« Moers war ihr zu klein. »In Moers habe ich meine Hautfarbe mehr gemerkt. Obwohl ich nicht super dunkel bin, war es da immer präsent.« Als Jugendliche in Moers sei sie radikaler geworden, habe sich aus purer Gegenwehr für Black
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