Stadtmutanten (German Edition)
wollte Lila wissen.
»Das ist unser Experiment. Wir wollen sehen, ob die Pisser auch was anderes als Menschenfleisch mögen. Mal sehen, wie lange es dauert, bis er den Schnaps trinkt. Wir haben Wetten darauf abgeschlossen.«
Ich fand das pervers. Dieser Mann hatte bei ihnen Zuflucht gesucht und wurde nun zu Unterhaltungszwecken missbraucht. Aber ein Teil von mir hatte auch Verständnis. Hier waren fünf Menschen, die tagelang in einem geschlossenen und relativ dunklen Raum zubrachten. Man musste sich mit etwas beschäftigen, um nicht verrückt zu werden. Nichtsdestotrotz überlegte der entrüstete Teil in mir, ob ich Florian in einem unbeobachteten Moment die Freiheit schenken sollte. Schließlich drehten wir uns wieder zur Theke, tranken Bier und quatschten belangloses Zeug. Lila und Gabi steckten die Köpfe zusammen und kicherten ab und zu, Mütze erzählte eine unglaubliche Geschichte aus seinem Leben nach der anderen. Ich war sicher, dass das meiste davon gelogen oder stark übertreiben war und hielt Mütze für einen ziemlichen Aufschneider. Nach einer Stunde hatten wir genug um den heißen Brei herum geredet und kamen schließlich zum Thema.
»Was glaubt Ihr, wo die ganze Kacke herkommt?«, fragte Mütze.
»Welche Kacke?«, wollte Georg wissen.
»Die Kacke«, rief Mütze und deutete auf Florian.
»Keine Ahnung, aber du hast sicher eine Theorie.«
Alles lachte, aber Mütze ließ sich nicht einschüchtern.
»Hab ich auch. Flori hat mich drauf gebracht.«
»Ach ja? Na dann lass hören.«
»Also, passt auf: Die verdammten Zeugen Jehovas sind an allem Schuld. Die Penner wiegen uns jahrelang in Sicherheit und stehen harmlos mit ihren Wachturmheftchen an der Ecke, damit niemand glaubt, sie wären dazu fähig. Dann bauen sie sich einen Königreichsaal genau neben dem Waller Friedhof. So eingezäunt, dass niemand von außen rein kann. Und jetzt kommt’s: Die Spinner meinen doch, sie würden am Tag des Jüngsten Gerichts überleben, weil sie Gottes Auserwählte sind, oder? Ich sag euch was: Die haben die Scheiße unter die Leute gebracht und schotten sich selbst ab, damit am Ende nur noch sie übrig sind und sie sagen können: Seht ihr? Wir sind rein, ihr seid alle verdammt, kommt besser in unseren Verein, dann seid ihr auch gerettet. Na, was meint ihr?«
Ich zuckte mit den Schultern. Seine Theorie war mit Sicherheit falsch. Aber es machte Spaß, darüber zu fabulieren.
»OK, ich bin mir sicher, dass die Zeugen das für sich benutzen würden. Aber was hat das mit dem Friedhof zu tun?«
»Mann, denk nach! Da haben die heimlich ihre Fehlversuche verbuddelt!«
»Alter, meinst du echt, die Zeugen Jehovas sind in der Lage, so etwas wie biologische Waffen zu entwickeln? In einem Königreichsaal?«, fragte Marty amüsiert.
»Nenn mich nicht Alter.«
»Schon gut, ich meine nur…«
»Nenn mich nicht Alter«, jetzt brüllend.
»Hey, komm runter, Mütze«, mischte Frank sich ein.
»Was heißt hier runterkommen? Ich muss mich von so einem Dreikäsehoch nicht ankacken lassen!«
»So reden die Jungen eben.«
»Aber nicht mit mir. Und du, Marty, wirst jetzt für deine Respektlosigkeit zahlen, damit du lernst, wie man sich unter Erwachsenen verhält!«
Er stand auf, ballte die Fäuste und ging langsam mit zugekniffenen Augen auf Marty zu. Er meinte es ernst. Todernst. Marty hatte keine Chance. Er stand mit seinem Kampfgewicht von etwa 60 Kilo einem Koloss von Mensch gegenüber. Ich war nie gut darin gewesen, schlichtend oder beruhigend auf aggressive Menschen einzuwirken. Aber an jenem Abend ging es um einen meiner Schutzbefohlenen. Marty saß ungünstigerweise am hinteren Ende des Tresens und Mütze versperrte den Fluchtweg. Ohne weiter nachzudenken, stand ich also auf und stellte mich dem besoffenen Aggressor in den Weg. Mütze war gut 20 Zentimeter größer als ich, hatte Bizeps wie ich Oberschenkel und verfügte mit seinen langen Armen über eine Reichweite, von der ich nur träumen konnte. Und ich war gehandicapt. Das sah auch Mütze.
»Na, was ist, Marek? Willst du auch ne Tracht Prügel?«
Ich antwortete nicht und nutzte lieber die Zeit, meinen Gegner einzuschätzen. Es würde schnell gehen müssen, sonst würde er mich zertreten wie eine Laus. Er war gefährlich, aber ich hatte so eine Ahnung, dass Mütze zu knacken war. Auf einmal stürmte er los und wollte mich mit einem rechten Schwinger umhauen. Schlechte Wahl, nichts ist so leicht zu blocken wie ein seitlich angesetzter Schwinger. Ich blockte den
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