Stahlhexen
Männer fragen sich, was da eigentlich los ist.«
Er begriff, worauf sie hinauswollte. Der Kameramann war der Kommandant des neuen Luftwaffenstützpunkts und hatte den Film vielleicht nur gedreht, um ein Andenken an den ersten Tag auf dem Stützpunkt zu haben, das er nach dem Krieg der Familie zeigen konnte. Von einem Offizier, der seinen Stützpunkt auf den weltweit ersten Einsatz einer ato-maren Waffe vorbereitet, wurde sicher etwas anderes erwartet. Und der kleine Wortwechsel zwischen ihm und dieser sonderbar aussehenden Frau war wirklich etwas eigenartig.
»Ein interessanter Gedanke«, meinte Fletcher. »Ich wüsste gern, was diese Frau eigentlich sagt. Wir brauchen jemanden, der Lippen lesen kann.« Er nahm sein Handy wieder zur Hand und klickte sich durch sein Adressenverzeichnis.
»Kennst du so jemanden?«
Er nickte, schrieb eine E-Mail-Adresse ab und schob sie Mia hinüber. Diese betrachtete den Namen:
»Kristina Mittanescu? Wer ist das?«
»Eine Rumänin. Erinnerst du dich an den ehemaligen rumänischen Staatschef Ceaucescu? Der hat immer stundenlange Reden gehalten. Und Kristina hatte die Aufgabe, hinter einer Einwegscheibe im Verborgenen zu sitzen, das Publikum mit dem Fernglas zu beobachten und die spitzen Kommentare, die die Leute einander zuflüsterten, von den Lippen abzulesen und weiterzumelden.«
Jetzt blickte Mia ausnahmsweise doch mal verblüfft drein. »Und was macht sie hier in England?«
Fletcher sah auf die Uhr. »Die Zeiten ändern sich. Ceaucescu wurde von seiner eigenen Armee erschossen und Kristina war ihren Job los. Inzwischen arbeitet sie als Sprachtherapeutin für das englische Gesundheitswesen. Aber mit Lippenlesen befasst sie sich bis heute. Die Polizei greift regelmäßig auf sie zurück, um Aufzeichnungen von Überwachungskameras zu entschlüsseln. Wenn du den fraglichen Filmausschnitt herausschneidest und ihr zumailst, kann sie die Worte vielleicht herausbekommen.«
»Okay, und weißt du, was ich noch mache ? Ich werde alles, was ich weiß, zusammenfassen und sicher hinterlegen - den Film und alles andere. Einschließlich deiner Arbeitshypothese über die radioaktive Bombe. Dann kann das, was wir bis jetzt wissen, wenigstens nicht mehr verloren gehen.«
Er ließ sie im schimmernden Licht des Zimmers zurück, die Balkontür knarrte leise unter den Wind- und Regenstößen. Ja, das macht sie richtig, dachte er. Beweise hinterlassen. Schade, dass Daisy Seager dafür keine Zeit mehr hatte.
Draußen auf der Straße schloss er seinen Parka gegen den Wind.
Oder hatte auch Daisy Beweise hinterlassen?
Fletcher bog in die Bateman Street ab. Der Regen klatschte spritzend an die Mauern der Schulgebäude, die die Straße säumten, und rann in kleinen Bächen über den Bürgersteig. Wenn das so weiterging, war bald die ganze Stadt überschwemmt.
Die Botanischen Gärten wirkten vollkommen menschenleer. Außer dem Regen, der schräg über die Wege und Rasenflächen peitschte, und dem Springbrunnen, dessen Fontäne vom Wind verweht wurde, rührte sich nichts. Hinter einem Bambusdickicht ragten die Gewächshäuser vor dem schiefergrauen Himmel auf. An einem sah Fletcher das Schild »Sukkulenten-Haus« und ging hinein.
Drinnen war es warm und feucht. Der Ölgeruch von Heizstrahlern hing in der Luft. Es war eine hohe Halle voll grüner Vegetation. Bei der Tür empfingen ihn dicke tropische Palmen, und weiter drinnen zog sich eine Riesenkakteenart an den Glaswänden entlang. Die Pflanzen waren bis zu drei Meter hoch, und ihre Stacheln schimmerten unruhig im Licht und Schatten des Regenwassers, das über die Scheiben rann.
Fletcher wartete, ging quer durchs Gewächshaus und atmete den Geruch von feuchtem Grün ein. Er betrachtete einen gesprenkelten Käfer, der über die Rinde einer tropischen Kletterpflanze krabbelte. Dann sah er auf die Uhr, schulterte seinen Rucksack und ging wieder nach draußen. Die Kälte war beißend, und der Regen hatte schon kleine Rinnsale in die Wege gegraben.
Wieder in die feuchte Wärme des Gewächshauses zurückgekehrt, wählte er die Nummer von Charlies Werkstatt. Diesmal wurde sofort abgehoben - doch auch jetzt schwieg die Person am anderen Ende der Leitung, und man hörte nur das Trommeln des Regens und das Quietschen der Drähte.
»Charlie? Ich bin schon da.« Keine Antwort. »Charlie?«
»Weißt du was, Tom? Deine Freundin Charlie hat so ein richtig billiges Telefon.«
»Wo ist sie?«
»Was machen deine Augen und deine Nase? Du klingst gut
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