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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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zurückzieht, wenn er die Welt für eine vorübergehende, aber tiefe Einsamkeit verlassen will.»
    Nun ist das aber nicht nur ein Satz über Kunst; es ist zugleich Genets Begriff der menschlichen Existenz – als Wunde und als Verurteilung zur Einsamkeit. In Genets Radikalität birgt sich auch eine große Trauer. Berührung ist für ihn zugleich Zersetzung, Glück ist nicht nur das nie Erreichbare, sondern auch das gar nicht Erstrebenswerte. Im Buch von jenem Querelle, der durch seine Verbrechen vervielfacht wurde und dem jeder seiner Morde ein neues Gesicht gab, finden wir diese Passage des endgültigen Abschieds:
    Ich bin ein Gegenstand der Abneigung. Ich habe ihn zu sehr geliebt. Zu viel Liebe ist widerlich. Zu große Liebe durchwühlt die Organe und alle Tiefen – und was sie an ihrer Oberfläche ausscheidet, ruft nur Ekel hervor. Eure Gesichter sind Nachen, die nie zusammentreffen, aber still dahingleiten, ein jeder auf dem Wasser des anderen.
    Genet hat früh von sich selber Abschied genommen – mit dem 1958 entstandenen Stück «Die Wände» hörte der 48 jährige auf zu schreiben. Immer wieder hat er betont, daß Sartres Über-Eloge, in der viele Interpreten das Sich-Erwehren gegen den Mächtigeren lesen wie in dem späteren Flaubert-Buch, ihn erschlagen habe. Es berührt heute sonderbar, mit welcher Unerbittlichkeit der Dramatiker Genet das Theater sah, als er schon längst aufgehört hatte, für die Bühne zu schreiben: «Das Theater ist ein Fest, das beim Sinken des Tages gefeiert wird, das ernsteste, das letzte, etwas, das unserem Begräbnis sehr nahe kommt.»
    Ein Vierteljahrhundert später war Jean Genet tot; er starb am 15 . April – auf den Tag genau sechs Jahre nach Jean-Paul Sartre.
    DIE ZEIT , 18 / 25 .  4 .  1986

Ich bin von allem ein Teil – und nehme Anteil an nichts
    Über Paul Bowles
    Ein Leben wie ein Film; nur mit der seltenen Besonderheit, daß hier jemand alles in einer Person war: Komponist der Filmmusik, Scriptwriter, Regisseur und Hauptdarsteller: Paul Bowles. Der 1910 in New York Geborene war zuerst einmal Flüchtling – ohne Wissen der vermögenden Eltern segelte er ohne einen Pfennig in der Tasche nach Paris, wo in einer entlegenen Zeitschrift, «Transition», zur Verblüffung des Neunzehnjährigen eine Erzählung von ihm veröffentlicht wurde. Es war das zweite «Erst-Erlebnis», und beide riefen jene leicht gelangweilte Déjà-vu-Reaktion bei ihm hervor, die für Leben und Werk des Paul Bowles die Erkennungsmelodie werden sollte; das erste war der Anblick nackter Modelle in der School for Design and Liberal Arts gewesen, in der er sich zum Entsetzen des Vaters immatrikuliert hatte; «School of
what
?» hatte der entgeistert gefragt und hinzugefügt: «Kannst du mir bitte erklären, was ‹liberal art› ist?» Bowles erinnert sich an jene erste Stunde des Aktzeichnens mokant: «Ich hatte nie zuvor einen unbekleideten menschlichen Körper gesehen, weder weiblich noch männlich, und nach den ersten Wochen des Observierens dieser seltsamen Phänomene hatte ich keinerlei Bedürfnis, derlei je wiederzusehen. Mir war nicht klar gewesen, daß menschliche Wesen so abschreckend wirken konnten.»
    Es ist diese Geste der herabgezogenen Mundwinkel, dieser Ton leichter Herablassung und diese Haltung der Distanz auch zur eigenen Person, die typisch sein wird für die Welterfahrung und die Arbeit von Paul Bowles.
    Paris brachte drei prägende Lebenserfahrungen, die aber Paul Bowles’ Gelassenheit nie aus der Balance brachten. Er hatte seine erste homosexuelle Liebesbeziehung, die er kaltblütig absolviert, als ebenso belanglos und lächerlich charakterisiert wie seine frühere Sex-Beziehung zu Frauen; prägend aber wohl doch: Paul Bowles wurde in den kommenden Jahrzehnten eine Art Fixstern im Planetensystem der homosexuellen Kulturszene seiner Zeit – er schrieb die Musik für die meisten Tennessee-Williams-Stücke, reiste mit Gore Vidal, war befreundet mit Truman Capote, weihte Allen Ginsberg in die Magie der Drogen ein und sah William Burroughs’ erste Versuche in seiner Wohnung in Tanger, Texte alogisch zu gruppieren. Tanger ist das zweite Stichwort: Es war Gertrude Stein, die ihn in Paris in ihren Kreis literarischer Freunde einführte und ihm schließlich eine Reise nach Tanger empfahl. Bei Gertrude Stein lernte er Ezra Pound kennen, aber auch, wie hochfahrend die Herrin von «Shakespeare and Company» ihre Gunst verteilte und entzog: «‹Ach, ich möchte Ezra nie mehr

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