Stalingrad
Arthur, Totleben und Clausewitz. Weniger als eine Stunde wird es auf keinen Fall dauern.
Ustinow empfängt mich ungewöhnlich feierlich. Er liebt Vorschrift und Zeremoniell. Überhaupt scheiden sich Geistesarbeiter, die an die Front geraten sind, grundlegend in zwei Kategorien. Die einen bedrückt und quält der Drill – an ihnen hängt alles wie ein Sack, die Uniform bauscht und knüllt sich, die Gurtschnalle sitzt an der Seite, die Stiefel sind drei Nummern zu groß, der Mantel bildet einen Höcker, der Zunge fällt das Sprechen schwer. Bei den anderen ist es das ganze Gegenteil. Ihnen gefällt diese äußere Seite des Kriegslebens sehr. Mit Vergnügen, ja mit einer gewissen Begeisterung grüßen sie, flechten alle Augenblicke »Genosse Leutnant«, »Genosse Hauptmann« ins Gespräch ein, protzen mit ihren Kenntnissen der Vorschriften und der deutschen wie der eigenen Flugzeugtypen. Wenn sie dem Sausen der Granaten und Geschosse lauschen, sagen sie: »Eine Regimentsgranate fliegt da«, oder »Die Hundertzweiundfünfziger haben angefangen«. Von sich sprechen sie nicht anders als »wir Frontsoldaten« oder »bei uns an der Front …«
Ustinow gehört zur zweiten Kategorie. Man merkt, daß er sich etwas einbildet auf seine Genauigkeit und die buchstäbliche Ausführung aller Regeln der Vorschrift. Das alles gelingt ihm durchaus nicht schlecht, trotz seinem vorgeschrittenen Alter, seiner Brille und seinem Hang zum Schreiben. Wen er auch begrüßen mag, er steht auf jeden Fall auf; wenn er mit einem Ranghöheren spricht, hat er die Hände an der Hosennaht.
Heute empfängt er mich mit besonderer Feierlichkeit. Alles an ihm ist beherrscht: der verschlossene Ausdruck des Gesichts, die zusammengezogenen Augenbrauen, die langsame schauspielerische Bewegung, mit der er mir einen Hocker anbietet. Alles deutet darauf hin, daß unser Gespräch sich nicht auf zusammenfassende Tabellen und Skizzen beschränken wird.
Ich nehme auf dem Hocker Platz. Er sitzt mir gegenüber. Einige Zeit schweigen wir. Dann hebt er den Kopf und blickt mich über die Brille an.
»Sind Sie schon über die letzten Ereignisse im Bilde, Genosse Leutnant?«
»Welche Ereignisse?«
»Wie? Sie wissen nichts?« Seine Brauen heben sich erstaunt in die Höhe. »Hat Ihnen der KSR nichts gesagt?« Der »KSR« ist in seiner beliebten Meldesprache der »Kommandeur des Schützenregiments«, in diesem Falle Major Borodin.
»Nein, er hat nichts gesagt.«
Die Augenbrauen senken sich langsam, wie schwankend, und nehmen wieder ihren gewöhnlichen Platz ein. Die Finger drehen einen langen, sorgfältig gespitzten Bleistift mit einer Hülse.
»Heute pünktlich um sechs beginnen wir die Offensive.«
Der Bleistift zeichnet einen Kreis auf das Papier, und zur Hervorhebung der Wichtigkeit des Satzes setzt er in die Mitte einen Punkt.
»Was für eine Offensive?«
»Offensive an der ganzen Front«, sagt er langsam, jedes Wort auskostend. »Verstehen Sie, was das bedeutet?«
Vorläufig ist mir nur eins verständlich: Bis zum Beginn der Offensive sind es nur zehn Stunden, und mein gestern den Soldaten gegebenes Versprechen, ihnen während der heutigen Nacht Ruhe zu gönnen – es ist die erste in den letzten zwei Wochen –, ist damit hinfällig.
»Die Aufgabe unserer Division ist beschränkt, aber wichtig«, fährt er fort. »Wir müssen uns der Wassertürme bemächtigen. Sie verstehen, wieviel Verantwortung jetzt auf uns liegt. Um vier Uhr dreißig beginnt die Artillerievorbereitung. Die ganze Artillerie der Front, das ganze linke Ufer wird zu Worte kommen. Zu unserer Verfügung – jetzt ist es sieben Minuten nach acht – steht eine ziemlich begrenzte Zeit spanne, nur etwa zehn Stunden. Ihr Regiment bekommt eine Kompanie des Pionierbataillons zugeteilt. Sie haben jedem Schützenbataillon einen Zug dieser Kompanie zuzuteilen, mit dem Ziel, die Pioniererkundung und Entminung der feindlichen Minenfelder durchzuführen. Die Regimentspioniere beauftragen Sie mit der Bahnung der Sturmgassen durch die eigenen Minenfelder.«
Das vor ihm liegende Blatt Papier füllt sich allmählich mit gleichmäßigen, sorgfältigen Zeilen.
»Vergessen Sie keinen Augenblick, alles genau einzutragen. Jede entfernte Mine muß vermerkt, jedes festgestellte Minenfeld fixiert und seine Lage bestimmt werden, und zwar unbedingt durch ständige Geländemarken. Sie verstehen mich? Nicht durch Fässer oder Kanonen, sondern durch ständige Geländemarken! Die Meldungen über die geleistete Arbeit
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